Die Suche nach dem Bruder

Die Suche nach dem Bruder

[25] Das Thema: „Die Suche nach dem Bruder“ schließt in sich selbst eine vierfache Behauptung ein. Einmal ist doch damit gesagt: All die Unruhe, all das Suchen, Forschen und Fordern, ja sogar die scheinbare Verschlossenheit des heutigen Menschen ist im Grunde Suche nach dem Bruder. Und zum zweiten wird uns gesagt, die wir ja zur Suche nach dem Menschen im Dienen und Helfen gerufen sind, daß es unsere Aufgabe sei, im anderen den Bruder freizulegen und zu entdecken, indem wir ihm begegnen. Schließlich ist ein Drittes mit hinzugesagt: Was der Mensch eigentlich sucht, indem er den Bruder sucht, ist der Bruder schlechthin, ist Jesus Christus. Und noch ein Letztes: Was Gott in uns sucht und von uns fordert, ist dies, daß wir Brüder seien der Brüder Seines Sohnes. So versteht Er unseren Dienst und unser Helfen.

Diese vierfache Behauptung darzutun, fällt mir deswegen nicht ganz leicht, weil Sie oftmals gespürt haben, enttäuschend gespürt haben, daß es nicht eigentlich der Bruder ist, den der andere sucht, sondern das ganz nackte, materielle nächste Gut, das er gerade braucht in diesem Augenblick. Dennoch meine [26] ich, daß diese These wahr sei, so wahr, wie unsere Adventslieder etwa wahr sind. Wir sprechen da von der großen Sehnsucht der Schöpfung, von der großen Sehnsucht der Menschen nach dem Christus, der kommen soll. Aber sehnen die Menschen sich denn nach Ihm? Oder wehren sie sich nicht gegen Ihn? Ist ihre große Not nicht gerade dies, daß sie keinen Hunger zu haben scheinen nach Ihm? Und doch ist der Advent wahr, wenn ich so sagen darf, in Maria. Diese innere Leere des Menschen, dieses innere Aufgetansein, dieses Gottsuchen wird in ihr, die dieses Leersein annimmt, zur Erwartung und zur Bereitschaft. In ihr legt sich das dar, was im Menschen drinnen ist. In ihr interpretiert sich die Leere des Menschen als adventliche Haltung der Erwartung und Bereitschaft auf Den, Der da kommen soll. Und ich meine, wir Christen sollen der lebendige Advent unserer Zeit sein, wie Maria selbst lebendiger Advent ist. Unsere Aufgabe ist es, als der lebendige Advent unserer Zeit, die Suche nach dem Bruder, die Suche nach Christus, die in unserer Zeit lebt, in uns selber aufzutun, zu entdecken und der Welt darzuleben. Und die Gestalt des Advent, in der wir heute stehen, unser Warten auf die Parusie, ist in besonderer Weise das Warten auf die Parusie des Bruders, Christi im Bruder. In diesem Sinne, meine ich, ist die aufgestellte These von der Suche nach dem Bruder wahr.

Es läge nun nahe, und es wäre ein recht guter und gültiger Weg, dieses Thema zu behandeln, daß wir versuchten, aus der Phänomenalität der Menschlichkeit heute, aus dem, was die vielen Gestalten menschlichen Suchens und Forderns heute zeigen, zu erheben, wie im Grunde der Bruder damit gemeint ist. Ich möchte diesen Weg indessen nicht einschlagen, son-[27]dern einen scheinbar entgegengesetzten. Wir wollen den Bruder nicht suchen im Blick auf den Bruder, wir wollen ihn suchen im Blick auf das Lamm, im Lichte des Lammes, das uns alle als Brüder angenommen hat, indem es die Schuld der Welt zu seiner eigenen Last machte. Im Licht des Lammes wollen wir auf den Bruder schauen, den Bruder beim Lamm suchen. Und was soll das heißen? Wir wollen gewiß auf die Phänomene, auf die Wirklichkeit der Welt, auf das, was Brudersein heißt und was es fordert, unmittelbar achten, aber so achten, wie es uns erschlossen und ermöglicht ist im Glauben an das Lamm Gottes, das da trägt die Schuld der Welt, im Glauben an unseren Bruder Jesus.

In der Schrift begeghet uns die Suche nach dem Bruder zum erstenmal als Suche Gottes nach Abel – Suche Gottes nach Abel, die sich an Kain, den Mörder, wendet. Und der Brudermord, der Gott auf die Suche nach dem Bruder treibt, steht nicht zufällig am Anfang der Geschichte. Er ist nicht ein Verbrechen, an dessen Stelle genausogut ein anderes hätte geschehen können, sondern er ist für die menschliche Geschichte typisch und bezeichnend. Freilich, die Tat des Kain ist eingeholt im Blut des Lammes, das für uns vergossen ist. Zwischen dem Blut des Abel und dem Blut Christi beziehen wir nun unseren Standort, und da erhebt sich uns als erstes die Frage: Was ist denn das überhaupt, ein Bruder? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Wir wissen es doch alle, aber was wissen wir da eigentlich? Und was berechtigt uns dazu, so selbstverständlich auch zu solchen, die im physischen Sinne nicht unsere Brüder sind, „Bruder“ zu sagen? Was ereignet sich da? In welcher Stellung begegnet mir ein Mensch, wenn ich „Bruder“ zu ihm sage?