Vorspiel zur Theologie
Die Transzendentalien und das Spiel
Es mag wie ein bloßes Spiel erscheinen, die überlieferten Transzendentalien umzuordnen, um aus ihnen nicht nur die Grundspiele von Interesse, Dasein und Sprache zu [89] gewinnen, sondern auch die ihnen allen gemeinsame Struktur des Spiels. Doch die Transzendentalien sind von sich selbst her ein Angebot zu solchem spielerischen Versuch. Und weil dieser spielerische Versuch etwas auszahlt nicht nur fürs Verständnis der Spiele und des Spiels, sondern auch fürs Verständnis der Transzendentalien, darf er wohl gewagt werden. Das an den Grundspielen bereits unmittelbar Abgelesene rechtfertigt es, diesen Versuch hier nur in der Gestalt einer formalen Skizze zu bieten.
Nun, was zahlt er aus? Fürs Spiel, für unseren eigenen Ansatz zahlt er aus, daß ein Gespräch gelingt mit einem anderen Ansatz. Und für die Transzendentalien selbst: Sie reihen sich nicht mehr nur zufällig nebeneinander, ihre Ordnung ist keine bloße Aufzählung, sie wird innerer Zusammenhang. Die sieben Namen stehen nicht untereinander wie auf einem Theaterzettel, sondern treten ein in ihr Drama, in ihre Geschichte. Das Drama selbst aber ist mehr als der Theaterzettel.
Die drei Transzendentalien bonum (Gutsein), ens (Sein), verum (Wahrsein) bezeichnen die drei Grundspiele des Interesses, des Daseins, der Sprache. Der sie verbindende Charakter des Spiels kommt zum Vorschein im pulchrum (Schönsein). Die innere Dynamik des Spiels entfaltet sich zwischen unum (Einssein), aliud (Anderssein) und res (Wassein, Gehalt).
In den drei erstgenannten Transzendentalien unsere Grundspiele anzusiedeln, hat von der Scholastik her ein doppeltes Recht. Einmal steht als Vorzeichen vor dem Verhältnis des Seienden zum Sein die participatio, die Teilhabe. Weil Seiendes am Sein teilhat, hat es auch teil am Wahrsein und Gutsein. Sein und Seiendes spielen je im selben Spiel von Gut, Da und Wahr. Zum anderen [90] leben auch Gutsein, Dasein und Wahrsein scholastisch von der inneren Spannung, der inneren Gegenwendigkeit aufeinander bezogener Momente bzw. Pole. Gutsein gibt es nur in der Wechselbeziehung zwischen dem Guten und dem Streben, dem bonum und dem appetitus. Dasein, actus, umschreibt in sich selbst die Spannung zwischen der Mächtigkeit über sich hinaus und der Wirklichkeit in sich selbst. Wahrsein ereignet sich im Zueinander, in der Entsprechung von Sache und Erkennen, adaequatio intellectus ad rem, adaequatio rei ad intellectum. Diese Harmonie aus Spannung und diese Spannung in Harmonie machen Gutsein, Dasein und Wahrsein konvertibel nicht nur miteinander, sondern zumal mit dem pulchrum, dem Schönsein. Es ist dieses Wechselspiel.
Wie aber geht dieses Wechselspiel? Es kann nur gelingen als Einung in Unterscheidung (unum und aliud). Dazu braucht es unterschiedliche Pole. Jeder von ihnen muß konsistent sein in sich und unterschieden von jedem anderen; nur so ist gegenseitige Beziehung möglich. In der Beziehung haben die Pole ihre Einheit miteinander; nur so gewinnt jedes Spiel seine Einheit nach innen und seine Unterscheidbarkeit nach außen. Und nochmals spielen alle Spiele – untereinander konvertibel und doch verschieden, sich ergänzende Aspekte desselben – ineinander: alles ist ein Spiel.
Dieses eine Spiel aber, das Spiel des Ganzen, ist zugleich Gegenüber zum gewährenden Geheimnis, es ist sein Anderes. Dieses Geheimnis geht über dem ganzen Spiel auf als die einzig unzerstörbare Einheit und als das zugleich doch Unberührbare, von ihm Unterschiedene. In solchem Aufgang freilich gehören dieses ganz andere Geheimnis und alles, was ist, zusammen und unter-[91]scheiden sie sich voneinander. Ein Verhalt, der in der Scholastik durch die Lehre von der Analogie des Seins zum Ausdruck kommt: ich darf in einem Atemzug, in dem einen Wort „ist“ vom Seienden, vom Sein und von Gott sprechen. Und doch sagt dieses Wort je anderes, aufs Seiende, aufs Sein und auf Gott zu gewendet.
Was nun geschieht, indem Einheit und Andersheit je ineinanderspielen? Unsere These heißt: Darin konstituiert und bestimmt sich der Gehalt, das Was dessen, was ist (res). Schauen wir es wiederum am Beispiel der Blume an. Sie ist sie selbst und ist damit alles andere nicht. Sie ist nicht Mensch, nicht Tier, nicht Stein. Sie steht ihnen gegenüber, somit aber in ihrem Kontext. Nur aus diesem Kontext her, aus dem, was sie in ihn einbringt, und aus dem, was sie aus ihm heraushebt, hat sie ihren Gehalt, ihr Was, ist sie eben Blume. Gäbe es überhaupt nichts anderes als Blumen, dann hätte es keinen Sinn, von Blumen zu reden. Wäre Blume das einzig Lebendige, gäbe es also keine Menschen und Tiere, dann fielen Blumen und Lebewesen in eins. Ein anderes Beispiel: Wäre alles rot, so hätte es keinen Sinn von Farben zu reden. Der Kontext, das, was sonst noch ist, bestimmt also den Gehalt mit, gibt allem, was ist, einen Stellenwert.
Der Einwand erhebt sich hier: Aber in sich wäre die Blume doch nichts anderes, als was sie ist, entspräche dem Rot doch dieselbe molekulare Schwingung, die wir auch jetzt messen. Betrifft also das Widerspiel von Einung und Unterscheidung wirklich den Gehalt oder nur die Erkenntnis des Gehaltes? Wir können beides indessen nicht auseinanderreißen. Eine Zuspitzung unseres Beispiels mag das veranschaulichen. Greifen wir alle beliebigen Prädikate, Eigenschaften auf, die man von et-[92]was, das ist, aussagen kann: groß, klein, schwer, alt usw. Von all diesen Eigenschaften ist die Blume mitbestimmt; denn entweder hat die Blume die einzelne Eigenschaft oder hat sie gerade nicht. Wollte ich die Blume, diese Blume völlig bestimmen, dann müßte ich alle denkbaren Eigenschaften, alle denkbaren Aussagen an sie anlegen und jede mit einem Plus- oder Minuszeichen versehen. Alles, das Ganze ist in jedem Einzelnen anwesend, bestimmt, was es ist. Genauer: indem das Einzelne die Eigenschaften, umgreifender gesagt: die Möglichkeiten des Seins zum einen Teil in sich vereinigt und zum anderen unterscheidend von sich abstößt, verhält es sich zu ihnen allen und hat gerade in diesem Verhältnis seinen Inhalt.
Diese – durch ihr bloß quantitatives, addierendes Vorgehen etwas sonderbare – an einen Gedanken von Kant angelehnte Operation zeigt unmittelbar mehr von ihrem Recht, wenn wir ans Spiel denken. Jeder Partner, jeder Pol im Spiel hat seinen eigenen Part. Nur durch den jeweiligen Part, der den Spieler identifiziert und von den anderen Spielern unterscheidet, bekommt das Spiel seine Kontur, seinen faßbaren Gang. Aber von jedem Part aus, in jedem Part wird das ganze Spiel mitgespielt. Nochmals ein Beispiel: Ein Gespräch ist mehr als die Plakatsäule, auf welcher die Plakate unterschiedlicher Gesprächsbeiträge nebeneinandergeklebt werden. Der Verschnitt mehrerer Tonbänder, die von mehreren Menschen besprochen werden, ergibt kein Gespräch. Jeder, der spricht, spricht sein Wort, hat aber im Hören, in der Offenheit, in der Reaktion das ganze Gespräch, alle Partner gegenwärtig. Sonst zerfällt das Gespräch in die Aufführung isolierter Monologe. Sagten aber alle nur dasselbe, würde das Aufeinanderzu und Miteinander zum bloßen Sprechchor, dann [93] gäbe es wiederum kein Gespräch. Ein Partner ist nicht nur der andere, er ist zugleich allen anderen gegenüber, der andere für alle anderen, und darin hat er auf je besondere, je eigene Weise alle anderen und das Ganze in sich. Die Weise, wie er das Ganze, das Gespräch in sich hat, macht das Besondere seines Gesprächsbeitrags, seiner Rolle, macht sein Was als Gesprächspart aus.
Das Phänomen rechtfertigt die abstrahierende Formel: Im Wechselspiel von Einung und Unterscheidung ist in allem, was ist, in allem was spielt, das Ganze auf je besondere Weise gegenwärtig. Das jeweilige Geladensein des Einzelnen mit dem Ganzen bestimmt sein Was, seinen Gehalt.
Wiederum gilt dieses Verhältnis auf allen Ebenen, auf denen auch Einung und Unterscheidung geschieht. In jedem Ding ist die Welt, in jedem Pol ist das Spiel, in jedem einzelnen Spiel ist das Spiel des Ganzen, im Ganzen ist der Grund des Ganzen, Gott, in Gott ist das Ganze. Wie wichtig es ist, diese Aussagen über die „Realität“, will sagen den Inhalt, das Was, die res im Spannungsfeld von Einung und Unterscheidung zu gewinnen und sie dort zu belassen, zeigt sich gerade hier. Nur die durch Einung und Unterscheidung konstituierte Analogie bewahrt vor der Nivellierung aller Gehalte.