Das Heilige und das Denken

Die Umkehr von Daß, Was und Warum im verdankenden Denken

Die vorstellende Kraft des Denkens ist im zwingenden Fassen das Warum, welches jedes Daß an sein Was bindet und im Was das zugehörige Daß bemächtigt; Daß, Was und Warum versammeln sich also aus der Struktur des Subjektes ins erklärende Fassen des Gegenstandes. Verdankendes Denken ist entgegengesetzt gerichtet: Fassendes Denken erklärt sein Woraufhin, klärt aber sich selber nicht, sondern entgeht sich; verdankendes Denken läßt vor seinem Woraufhin alles Erklären zu Boden fallen und ist im Verdanken seiner selbst als des Unerklärlichen so gerade sich selber klar, mit sich selbst eins.

Daß Denken denkt, wird ihm zur Tatsache, in der sein Anderes, das Gewährende sich bekundet, das seinerseits so gerade nicht als Gezeitigtes, als Tatsache, sondern als das aktive Gegenteil alles fixierten und konstituierten Daß, als die reine Zeitigung, als „Freiheit“ aufgeht.

Was sich so nur als das Gegenteil der Tatsache, als reziproke Tatsache weist, kann entsprechend vom Denken auch nicht „festgestellt“ werden – und doch ist es das Gewisseste des Denkens. An die Stelle der Feststellung tritt das Zeugnis. Denken selbst, die Tatsache des Denkens, sein Festgestellt- oder besser: sein Sich-übergeben-Sein bezeugt die gebende Gewähr, der es sich verdankt.

Denken „ist“. Dieses „ist“ aber hat einen anderen Sinn als das des feststellenden Istsagens: es übernimmt die Zuweisung des Denkens an sich selbst, seine Freisetzung aus dem Abgrund der es gewährenden Freiheit. In solcher Übernahme seiner selbst beantwortet das Denken diese Zuweisung, setzt verdankend frei sich selbst auf die es freisetzende Gewähr hin. Das bezeugende „ist“ weiß sich als Antwort, als unbeliebig, als wahr-nehmend und weiß doch, daß es nicht aus bloßer Logik, sondern aus dem freien Entschluß kommt, ohne den Antwort nicht Antwort ist. Nichts ist so unverfügbar und nichts zugleich so frei wie das Zeugnis.

[40] In der bezeugenden Tatsache seiner selbst wohnt dem verdankenden Denken so eine qualitative Spannung inne: es ist nicht blindes Nun-einmal-Denken-Sein, sondern eben: mit sich und seinem bezeugenden Verweis Beschenkt- und Beladen-Sein.

Denken wird sich offen als Ermächtigung zu sich und allem und zugleich als Verantwortung für sich und alles, sein Wesen wird aus der formalen Bestimmtheit, Umgriff und Inbegriff von allem und darin Verhältnis zu sich selbst zu sein, umgestimmt in seine ursprüngliche Stimmung und das in ihr sich weisende Verhältnis zu dem aller Bestimmung enthobenen rein sie und alles Stimmenden. Dieses ist im verdankenden Denken nicht nur bezeugt als die Umkehrung aller Tatsächlichkeit in die reine Gewähr, es ist, über aller Bestimmbarkeit draußen, zugleich auch das Gegenteil alles Was, doch sein Gegenteil nicht in der Richtung aufs Leere und Nichtige und darum nichts zu fassen Bietende, in sich Ungestimmte, sondern in der genau anderen Richtung. Um seines Ranges und seiner Fülle willen weist es die definierend washafte Aussage von sich ab, die von ihm ins Verdanken gestimmte Rede des Denkens wird zur Rühmung. Das Denken rühmt, was es bezeugt. Das von ihm Gerühmte wird im rühmenden Wort über es hinaus und von sich weg in seine Unsäglichkeit erhoben. Ist-sagende, einen Wasgehalt prädizierende Aussage sagt so viel, wie sie sagt, Rühmung ist Rühmung nur, indem sie, qualitativ, mehr meint, als ihr Sagen zu sagen vermag, indem also an die Stelle des Was das Geheimnis tritt.

„Geheimnis“ meint die aller Bestimmung entzogene, selbst alles stimmende und bestimmende Umkehrung des Wesens, auf welche das verdankend gestimmte Denken weist, indem es das gewährende Gegenteil seiner und aller Tatsächlichkeit bezeugt; die Frage, was dies Gewährende sei, läßt sich eben nur beantworten durch den rühmenden Verweis aufs Geheimnis, der in solchem Beantworten seine Frage als solche unberührt stehen läßt. Im verweisenden Zeugnis ist dem Denken sein als Feststellung sich versagendes Ist-Sagen zurückgegeben, in der Rühmung erhält das Denken sein [41] nicht mehr des Bestimmens mächtiges Etwas-Sagen als be-deutend wieder.

Sich selber helles Denken sind Zeugnis und Rühmung nur, indem sie wissen, warum sie zeugen und rühmen. Verdankendes Denken kennt sein Warum und ist gerade deshalb eindeutig und gerade deshalb auf gesteigerte Weise denkend. Das Warum liegt im Verdanken selbst. Das heißt aber wiederum: es kehrt, als Warum, sich um in sein Gegenteil. Denken denkt, weil es sich zugedacht ist, aber warum ist es sich zugedacht? Hier gerät die Frage an das Ende, über das sie selbst, über das aber keine Antwort hinausführt. Das Ausbleiben der Antwort bedeutet dem verdankenden Denken indessen gerade keinen Abbruch, keinen von außen kommenden Verzicht, sein Sich-Gegebensein, sein Denkendürfen und -sollen verschlägt ihm von selbst ein Weitertreiben seines Wissenwollens über die gewährende Grenze. Was bei jedem wahrhaften Beschenktwerden geschieht: die letztlich fraglose Annahme aus der frei tragenden Huld, die sich mir gönnt, das Ausbleiben von „Motiven“ und „Hintergründen“ im lauteren Zuspruch, der mich angeht, das ruht auch auf dem Grunde des Denkens, wo dieses sich annimmt: es nimmt mit sich seinen Anfang aus dem Unbegreiflichen, sein Sich-Gewährtsein und Gestimmtsein an als das Wunderbare.

Wunderbar ist im phänomenalen Sinne nicht etwas, das aus gängigen Ursachenreihen nicht erklärt und daher nur auf eine dahinterliegende Ursächlichkeit hin zurückgeführt werden kann, wunderbar ist vielmehr jenes, was von seiner inneren Qualität her jedes Dahinterkommenwollen zum Verstummen bringt und die Kette der Erklärungen zerreißt. Wunder ist nicht eine höhere Weise von Ursächlichkeit, sondern die Umkehrung aller Ursächlichkeit, jenes, das von sich her dem Denken gleich ursprünglich die Warum-Frage und die Hingabe des Warum, der Antwort aufs Warum, zumutet. Das Wunder kann also nicht erklärt, es kann nur „erzählt“ werden: „Das hat sich begeben, das habe ich erfahren!“ Ursächlichkeit ist im Wunder überboten in die reine Zei- [42] tigung: kein vom Denken reproduzierbar in seiner Verknüpfung durchschaubarer Zusammenhang, sondern das lautere Geschehen des Zukommens gibt sich in den bezeugenden Bericht.

Sein Erzählen ist freilich auch das Gegenteil des Aufzählens, der geordnet-gereihten oder gar zufällig-zusammenhanglosen Anhäufung von aufeinander Folgendem. Doch nicht eine „Regel“ ist es, die hier das Voraufgehende mit dem Folgenden verbindet, sondern die freie Gewähr, der sich das Folgende verdankt. Und nur im Verdanken und in seinem Bezeugen wird dieser Zusammenhang, der das andere der Kausalität und des Zufalls zugleich ist, offen; nur verdankendes Denken vermag das Wunderbare zu erzählen.

Im Annehmen der Gründung seiner selbst aus dem Wunderbaren birgt sich ein weiterer und noch tieferer Zug des Denkens, der es ihm erst ermöglicht, erzählendes Denken zu sein, weil er das Denken erst auf das zu erzählende Wunderbare aufmerksam und zu seiner Zeugenschaft fähig macht:

Denken wird vor dem Wunderbaren seiner freien Gründung aus dem Geheimnis zum glaubenden Denken. Es sagt, sich übernehmend in seinem unergründlichen Anfang, ins gewährende Woher dieses Aufgangs hinein: Ich glaube mich dir! Dieses sein Glauben ist nichts Fremdes zum Denken, sondern selbst ganz und gar Denken, wenn anders doch Denken nur als ermächtigt und verantwortlich zu denken, als denken dürfend und zu denken schuldend wahrhaft sich selber helles Denken ist. Denken hat, als Denken, wo immer es auf dem Weg des Denkens geht, mit solchem verborgenen Glauben begonnen.1 Das Fragen und das Erklären des Denkens versänken in sich selbst, wenn Fragen und Erklären sich nicht der Zusage und Zuweisung sicher wüßten, die dem Denken verstatten und abfordern, Denken zu sein. Alle Eindeutigkeit des Denkens weist zurück auf diese anfängliche Beziehung des Denkens von sich weg in sein Gewährendes, in das „Glauben“ des [43] Denkens hinein. Auch das verknüpfende und durchschauende Erklären fassenden Denkens erzählt, auf sich helle oder auf sich selbst entgehende Weise, von seinem wunderbaren Ursprung, bezeugt seine freisetzende Zeitigung und rühmt sein unsägliches Geheimnis.


  1. Vgl. hierzu Franz von Baaders Gedanke zum „glaubenden Wissen“, zum Ursprung des Wissens in einem ihm fundierend immanenten Glauben, Sämtliche Werke, Leipzig 1851–60, X, 24; VIII, 29; I, 365ff. ↩︎