Unterscheidungen

Die Unterscheidung des Heiligen*

Ist das Heilige alsdann aber ein transzendentales Angesicht des Seins?

In allem, was ist, zeigt sich das Sein als jenes, das den Unterschied von seiend und nichtseiend, das die Identität eines jeden mit sich selbst wahrt und gründet. Wahrheit kommt in dem vor, was sie wahrt; scholastisch: Omne ens est verum.

Eidos, Gestalt zeigt sich wiederum als Antlitz des Seins. Alles was ist, bringt sich zum Vorschein und Anschein, der sich mittun, der sich in die Mimesis des gefallenden oder gestaltenden Mitspielens einbringen läßt; was immer ist, vermag sich zu spiegeln im Spiel. Dieser Glanz des Seins glänzt auf in dem, was ist, sofern es ist.

Was immer ist, bringt mich in die Situation, zu fragen nach dem, was sein soll. Der Anspruch des Seinsollenden kommt in dem, was ist, als Anspruch des Seins an mich heran. Auch das Seinsollende ist im Seienden als solchem offenbares Antlitz des Seins.

Freilich kann mich überall auch der Anruf des heiligen Geheimnisses, der Anruf, daß es allein auf es ankommt, der Anruf, sich grenzenlos und bedingungslos ihm zu überlassen, betreffen. Alles vermag sein Wink und Zeichen zu sein. Wink und Zeichen aber zeigen von sich weg, rufen über sich hinaus. Sie wollen nicht meine „Haltung“, sie wollen nicht mein Verhalten – beides zwar auch, aber erst in zweiter Linie –, sie sind Einladung zu einer Begegnung, sie rufen mich in das konkrete Ereignis meines Mich- und Alles-Verlassens auf das heilige Geheimnis zu, sie rufen mich in die Partnerschaft zu seinem vorgängigen Aufgang und Angang. Hier deutet sich auch der scheinbar kleine, im Grunde aber radikale Unterschied zum Ethischen an, das letztlich darauf abzielt, wie ich oder wie es sein soll.

Die Frage bleibt: Das Heilige – ist es Antlitz des Seins? Ist es [72] gar das Sein selber? Die Differenz zu jenen „Antlitzen“ des Seins, die sich im Seienden, sofern es ist, zeigen, hat sich erschlossen. Wenn aber der Mensch in jene Kehre des Denkens gerät, in der es nicht mehr das Sein auf Seiendes zu, das Sein als die Idee des Seienden liest, sondern die Unselbstverständlichkeit dessen, daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts ist, aushält, ist es dann nicht gerade dort, wo das Heilige ihm aufgeht? Ist das Heilige also das Sein, sofern es unselbstverständlich sich gewährt und in solcher Gewähr je zugleich sich entzieht? Heidegger spricht davon – und dies zu Recht –, daß ohne den Aufgang des Seins ins Denken auch das Heilige ihm nicht aufgehen könne.1 Und doch bleibt der Unterschied zwischen der Besinnung, die das Sein gewahrt, und dem religiösen Vollzug, dem sich das Heilige auftut, zu wahren. Denken als Besinnung, die das Sein gewahrt, hält sich nicht mehr in einem der drei Grundakte oder auch in ihrer „horizontal“ sie integrierenden Gleichzeitigkeit auf. Es ist in ihr inneres Ende, in ihren inneren Umschlag geraten. In diesem Umschlag bleibt das Denken aber als fragendes. Es wahrt die Unsäglichkeit des Unsäglichen, es achtet seine eigene Grenze. Sein ist ihm gewährt. Es setzt das Sein nicht als Letztes und Äußerstes, es verwahrt sich jedoch dagegen, dieses Sein wiederum zu ontifizieren und auf einen „seienden“ Ursprung nach dem Modell endlicher Kausalität zu reduzieren. Wo aber das Heilige ruft, da werden das Dasein und das Denken in eine neue, konkrete Bewegung hineingeholt. Es ist nicht mehr die Bewegung einer unangemessen transzendentalen Konkretion, die Sein und Wahrheit und Schönheit und Gutheit hypostasiert.2 Religiöser Vollzug spricht konkret, aber seine Konkretion ist die von Antwort und Anruf, nicht die von verfügendem Bestimmen und Einstellen in fassende Kategorien. Er ist transzendente Konkretion. Das Denken ist verwandelt in die Einfalt der Unmittelbarkeit, diese Einfalt aber ist scharfsichtig genug, sich vom Definieren und Kategorisieren zu unterscheiden; denn in ihr leben die anderen „Gesetze“ des Sprechens, die aus geschehender Beziehung herrühren. Aus dem unverfügbaren Ereignis der Zuwendung unbedingter Gewähr erfährt der religiöse Vollzug es gerade als angemessen, die [73] Unangemessenheit endlicher Worte dem Geheimnis zuzumuten, das sich selbst die Zuwendung ins Endliche zugemutet hat. Denkend läßt sich solches nicht mehr erstellen, und doch rechtfertigt sich derlei Zumutung dem Denken. Denn das Sein selbst ist das unselbstverständlich Gewährte, es vermag sich mir zuzumuten als der „Sog“ einer mich über mich, über alles, was ist, aber auch über das Sein hinausrufenden Gewähr, von der aus sich mein eigenes Dasein, meine Welt, aber auch der Sinn von Sein im ganzen erst entscheidet.

Meine eigene „Konkretheit“ kann mir ein Zeichen dafür sein. Ich bin hier und jetzt, in meiner Verantwortung, meiner Spontaneität, meinem unverfügbaren Mir-Gegebensein. Ich bin aber nicht einfachhin Seiendes. Die Anwesenheit des Seins bei mir, die Öffnung über meine und alle Endlichkeit hinaus, verschärft geradezu meine Konkretion, mein Nur-Ich-Sein – das nicht allein im Sinn der Grenze, das auch und gerade im Sinn der Ursprünglichkeit verstanden: Ich muß und kann von mir aus sein lassen, was ist, aus mir „entspringt“ Sein selbst, ohne dadurch aufzuhören, mir gegeben zu sein. So bin ich, als mir gegebener und aufgegebener und darin ursprünglicher Ursprung, berührbar durch Ursprünglichkeit schlechthin, die sich und mich und alles und Sein selbst mir gewährt. Das Sein selbst in seinem unverfügbaren Gewährtsein, in seinem aus sich selbst unselbstverständlichen Unterschied weist hin auf seine Zeitigung aus unbedingter, reiner, weder nichtiger noch allgemeiner, noch seiender Ursprünglichkeit. Dieser Hinweis trägt freilich erst dort in den lebendigen Bezug, meine Möglichkeit zur Partnerschaft mit unbedingter Ursprünglichkeit wird erst dort als Möglichkeit entbunden, wo solcher Ursprung mir begegnet. Daß er begegnet, daß er aufbricht, daß er meine Ursprünglichkeit ruft, dies läßt sich freilich nicht erstellen, dies kann nur von sich, dies kann nur vom unbedingten Ursprung aus geschehen.

Der religiöse Akt ist so „ärmer“ als die transzendentalen Grundakte. Er ist nicht schlechterdings eine „Möglichkeit“ des Menschen. Seine Möglichkeit hängt davon ab, daß Epiphanie, daß Aufgang des Heiligen geschieht. In solcher Jeweiligkeit, in solcher Konkre- [74] tion und Einzelheitlichkeit ist er – bei aller Nähe – das Gegenteil der transzendentalen Grundakte. Freilich, wenn er geschieht, von sich her gesehen, ihr konstitutives Gegenteil. Das Heilige ist also nicht nur ein transzendentales Antlitz des Seins. Das Heilige ist es selbst.


  1. Vgl. Heidegger, Martin: Über den „Humanismus“. Brief an Jean Beaufret, Paris, in: Platons Lehre von der Wahrheit, 2. Aufl., Bern 1954, 53–119, bes. 85f. ↩︎

  2. Daß Wahrheit, höchstes Gut, Schönheit zu Recht „Namen“ des Unbedingten, göttliche Namen zu sein vermögen, ist davon nicht berührt. Die Peripetie der transzendentalen Bestimmungen zu Namen hat ihre eigene innere phänomenale „Geschichte“. ↩︎