Unterscheidungen

Die Unvollendbarkeit des Menschen*

Blicken wir nochmals zurück auf die Strukturen menschlichen Transzendierens und die sie jeweils immanent eigentümlich bestimmende Dialektik von Frage- und Sinnstruktur, von Transzendentalität und Transzendenz. Beziehen wir in diesen Rückblick auch [32] unsere anfängliche Orientierung an verschiedenen Grundgestalten menschlichen Versuches, den Menschen zu definieren, mit ein. Für die Frage nach der Unterscheidung des Menschlichen kann sich so eine zusammenfassende, aber gerade nicht „generalisierende“ Antwort andeuten. Sie lautet, in eine vorläufige Gestalt gebracht: Das unterscheidend Menschliche ist das Dramatische.

Wieso? Das Menschliche ist nicht nur sein „Verlauf“, sondern es ist in seinem Verlauf die konstitutive, gefährdende, gefährdete und – hoffentlich – erfüllende Präsenz eigentümlicher Gegenläufigkeit.

Am inneren Grundrhythmus der drei Strukturen menschlichen Sich-Transzendierens angeschaut: Sorge ist Ausgriff auf eine Zukunft, die diese Sorge jedoch nicht aus sich vermag, sondern die ihr erst „zukommen“, die sich ihr gewähren muß. Kommunikation ist unselbstverständliche Öffnung zu anderen, deren sich öffnende und antwortende Annahme auch ihrerseits das Unselbstverständliche, Unerzwingbare ist. In Annahme und Antwort oder deren Verweigerung stehe ich selbst mit dem, was ich bin, auf dem Spiel. Die Intensität engagierenden Anspruchs und Zuspruchs reißt mich heraus aus meinem über mich verfügenden Planen und Wollen, sie gefährdet mich – aber auch sich in mir, der ich mich diesem Anspruch verweigern oder ihn verfehlen kann. Ich bin Ausgriff und Angewiesenheit – und das, wonach ich ausgreife, ist zugleich „angewiesen“ auf mich. Im „Zwischen“ begibt sich die Geschichte, die ich bin, die das Menschliche ist.

Die horizontale Dramatik der gezeichneten Strukturen – das wird unmittelbar bereits in der Analyse der Intensitätsstruktur deutlich, die mich nicht nur alles und mich aufs Spiel setzen heißt, sondern die auch sich aufs Spiel setzt, indem sich Unbedingtes mir „ausliefert“ – schlägt um in eine vertikale Dramatik: mein transzendentales Fragen findet sich beansprucht von einem ihm transzendenten Grund und angewiesen auf eine ihm transzendente Antwort, die sich ihm geben müssen und denen es sich geben muß. Es ist nicht zwischen mir und den „Zufällen“, die meine Sorge antrifft, es ist nicht einmal zwischen meiner Freiheit und der Freiheit [33] anderer, und es ist zuletzt und zuhöchst auch nicht durch meine Leistung, durch meinen Einsatz für die unbedingt mich angehende Idee allein auszumachen, ob mein Dasein im ganzen gelingt. Das Menschliche ist in allem dem seiner selbst und es ist auch seines anderen nicht sicher; denn aus sich selbst ist es dessen nicht sicher, was ihm gewährt, das Menschliche zu sein. In der „horizontalen“ Geschichte menschlicher Freiheit spielt untrennbar zugleich die „vertikale“ zwischen menschlicher Freiheit und ihrer unbedingten Gewähr. In solcher Dramatik enthüllt sich menschliches Wesen als Dialog von Freiheit zu Freiheit. Menschliche Freiheit ist nicht ohne die Freiheit anderer, und sie ist nicht ohne die „andere Freiheit“, die menschliche Freiheit und das Miteinander menschlicher Freiheiten gewährt und einlöst. Wo menschliche Freiheit nicht dazu verharmlost wird, ein Prinzip zu sein, das seiner Erfüllung aus sich selbst und allein sicher ist, da lassen sich auch jene Entwürfe des Menschseins, von denen eingangs die Rede war, im Ansatz auf diese konstitutive Dramatik der Freiheit hin lesen. Die Freiheit unbedingten Ursprungs ist latent überall gegenwärtig, sei es als Zielbild menschlichen Wesens, sei es als tragische Projektion, sei es als das Ungewisse, Verweigerte, sei es als die Zukunft, auf die hin der Mensch je unterwegs ist.

Drei extreme Positionen in Sachen des Menschlichen weichen der Spannung der gezeichneten vertikalen Dramatik aus: einmal die Fixierung auf die Unlösbarkeit dieser Dramatik aus sich selbst, die tragische Verschließung in sich, die keine Antwort, keine Lösung erwartet und akzeptiert; zum andern die Nivellierung dieser Dramatik in die Selbstvertröstung, man werde den Sinn am Ende doch aus eigener Kraft erreichen; schließlich die „reziproke“ Verharmlosung der Dramatik in einer Apokatastasislehre, der die Geschichte nur die Vollstreckung eines automatisch sicheren Heilswillens Gottes darstellt.

Das Menschliche scheint in solchen „Lösungen“ um sich, um die Erfahrung seiner selbst verkürzt. Nicht dort ist die Sicht des Menschlichen zu sich selbst durchgeklärt, wo es seine Unvollendbarkeit durch sich allein wahrnimmt und sie – somit aber sich, seine [34] eigene Endlichkeit – absolut setzt: Vollendung vermag nicht zu sein, weil ich sie nicht vermag! Nicht dort ist die Freiheit des Menschlichen zu sich selbst befreit, wo die Unendlichkeit wollenden Ausgriffs sich aus sich selbst erfüllen zu können vermeint: Vollendung wird sein, weil ich sie will! Mehr sieht, wer die Spannung sieht, ohne sie auf nur einen ihrer Pole zu verkürzen; mehr sieht, wer offenläßt und offen ist. Hier auch ist die größere Freiheit: erst die Freiheit des Menschen auch zu dem, was seine Freiheit aus sich nicht vermag, ist ganz frei.

Nur an sich selbst angeschaut, bleibt das Menschliche in der Schwebe. Es ist einbegriffen in ein dramatisches Geschehen, das von ihm – aber nicht von ihm allein abhängt, in das es aber hineingerufen ist, in dem es, so oder so, mitspielt.1

Diese Unvollendbarkeit des Menschlichen läßt sich als seine konstitutionelle „Hoffnung“ verstehen. Solche Hoffnung freilich kann sich nicht an einem ihr immanenten Prinzip, das sie je wieder hervortreibt, beruhigen, sondern sie ist Hoffnung, weil sie ihr „Prinzip“ nicht im eigenen Vermögen oder Unvermögen hat. Sie hofft von sich weg, über sich hinaus. Was sie erfüllt, kann sich nur von sich her – aus Freiheit – ihr schenken, und sie muß von sich her – in Freiheit – sich einlassen auf dieses Geschenk. Zwischen dieser Hoffnung und dem, was sich ihr schenkt, bleibt die Dramatik des Menschlichen bestehen. Es ist unselbstverständlich, daß der Mensch es annimmt. Menschliche Freiheit und unbedingte Freiheit bleiben in Freiheit Partner zueinander, zwischen ihnen muß eine Geschichte geschehen, damit sie einander erreichen – und gerade so ist die Göttlichkeit Gottes und die Menschlichkeit des Menschen gewahrt.

Zum Menschen gehört so das „und“, gehört, daß er nicht allein, daß er nicht alles ist. Dieses „und“, diese Öffnung über sich hinaus, ja diese Unvollendbarkeit durch sich allein „definieren“ den Menschen. Er ist durch sein unbedingtes Anderes konstituiert, und gerade seine Annahme, sein Mitvollzug dieser Konstitution durch sein unbedingtes Anderes machen die Ursprünglichkeit, die „Selbstkonstitution“ des Menschen aus. Das unbedingte Andere ist nicht [35] äußerer Zusatz zum Menschen, nicht „zweites Stockwerk“ seiner Existenz, sondern jenes, von dem her und auf das zu der Mensch Mensch ist. Dieses „Und“, das der Mensch ist, ist zugleich das vom Menschen Unvermochte, es ist die von ihm allein her offenbleibende Anfrage. „Und“ als Frage – das ist der Mensch, dies die Formel seiner Existenz: und?


  1. Vgl. den Nerv des Pascalschen Arguments der Wette, Pensées, ed. Brunschvicg, Frgm. 223. ↩︎