Weite des Denkens im Glauben – Weite des Glaubens im Denken

Die verborgene Motivation der Weite des Denkens: die drei Grundentscheide in der Berufs- und Lebenswahl Bernhard Weltes*

Die erste Stufe soll etwas zeigen von der verborgenen Motivation der Weite in der eigentümlichen Radikalität von Bernhard Welte. Ich durfte einmal Zeuge sein, wie er erzählte, warum er Priester werden wollte. Die Antwort hat nun gar nichts mit unseren heutigen Problemen priesterlicher Identität zu tun. Es waren ganz andere Zeiten, aber seine Antwort, die nicht auf unsere heutige Frage „Priester sein“ oder „Priester sein so oder anders“ eingeht, hat trotzdem eine tiefe innere Bedeutung.

Er war fasziniert von den Sternen, er erschrak vor dem Nichts zwischen dem Etwas, ihn faszinierte die Wirklichkeit, und so [224] begegnete er als Glaubender dem Geheimnis Gottes: „Wenn diese Wirklichkeit mit Ihm zu tun hat, dann muß ich einen Weg für mein Leben wählen, auf dem ich mich damit beschäftige.“ Dieses Offensein für Wirklichkeit, für die Weltwirklichkeit und für die letzte Wirklichkeit nahm Bernhard Welte auf seinem persönlichen Lebens- und Berufsweg in Anspruch.

Drei Grundentscheide stecken in dieser Berufs- und Lebenswahl. Der eine Grundentscheid: Wirklichkeit, jedwede Wirklichkeit, hat das Recht, von uns gedacht, von uns ernstgenommen zu werden, sich uns anzutun, sich uns zu erschließen und uns darin zu verändern. Dieser Grundentscheid von Bernhard Welte ist ein ganz geistlicher und ein ganz säkularer, beides zugleich. Denn die letzte und äußerste Wirklichkeit macht sich fest und begegnet in den Wirklichkeiten, im Staunen über sie, im einfachen Sehen, daß sie da sind. Darüber kann ich nicht zur Tagesordnung übergehen.

Ich weiß von Spaziergängen mit Bernhard Welte, wie wichtig ihm die Gräser waren. Er kannte sie alle. Er konnte einen Feldblumenstrauß aus Südbaden analysieren, aus welcher Gegend er war, weil er die Bodenverhältnisse kannte. Er sagte: „Ich kann an diesen kleinen Gräsern doch nicht vorbeigehen. Ich muß etwas von ihnen wissen und mit ihnen umgehen. Es geht nicht an, daß ich nicht weiß, über welchen Boden ich laufe.“ Er wollte wissen, aber nicht im Sinn eines äußeren Studierens – auch wenn die Information dazugehört –, sondern eines Ermessens, welche Wirklichkeit sich hier aufschließt und antut. Das Recht der Wirklichkeit, von uns unverstellt und von ihr selbst her – also phänomenologisch im fundamentalsten Sinn – wahrgenommen zu werden, ist ein Grundentscheid von Bernhard Welte. Und er hat sich durchgetragen bis in die letzten Äußerungen – und ich wage zu sagen: Stunden – seines Lebens und seines Wirkens.

Damit ist aber ein zweiter Grundentscheid verbunden: der Grundentscheid für den Menschen. Der Mensch ist das Wesen, das die Pflicht und das Recht hat, die Helle und die Möglichkeit, alles das zu sehen, zu bedenken und so in seine Wahrheit, sein Licht, seine Kostbarkeit hinein zu bergen. „Anima est nata convenire cum omni ente – die Seele ist geboren, mit allem Seienden [225] in eins zu kommen“, dieser thomasische Satz war Bernhard Welte sehr wichtig, er nannte für ihn die Bestimmung des Menschen. Der Mensch muß sich die Wirklichkeit in ihrer Fülle zumuten, er muß sich den Fragen stellen; dies ist kein Zwang, sondern die Größe, die Freiheit, die Weite des Menschen.

Das Recht der Wirklichkeit, vom Menschen gesehen zu werden, und die Pflicht des Menschen, Wirklichkeit in ihrer ganzen Fülle ernstzunehmen, mitzuvollziehen und aus sich aufgehen zu lassen, sind die zwei Grundentscheide, die schon im Anfang des Denkens und Wirkens von Bernhard Welte stecken.

Sie werden auf seinem weiteren Weg durch einen dritten Grundentscheid ergänzt, der nicht ganz neu ist und doch einen anderen Akzent setzt: Alle Gedanken haben das Recht, von uns mitgedacht zu werden. Das ist eine ganz andere Weise als „Ich muß alles wissen“. Nein, er brauchte nicht alles zu wissen; er war gelassen, daß er vieles nicht gewußt hat. Aber er konnte mit einem Gedanken nicht so umgehen, daß er ihn einfach ins Regal ablegte und mit einem Schild „idealistisch“, „existentialistisch“, „thomistisch“ oder sonstwie abstempelte, sondern er betonte immer wieder, daß der Gedanke ihn einlädt: „Jetzt schau, was hinter mir steht. Glaubst Du, daß der, der mich gedacht hat, so banal war, daß er nur aus anderen Büchern etwas zusammengeschrieben hat? Merkst Du nicht, daß sich auch hier jener Duft der Frische und der Wirklichkeit findet, den Du an einem frischen Feldblumenstrauß riechst? Solltest Du mich nicht doch denken?“ Das Recht der Gedanken, von ihnen selbst her mitgedacht zu werden, das ist der dritte Grundentscheid.

Die drei Grundentscheide: Das Recht der Wirklichkeit, von uns gesehen zu werden; die Pflicht des Menschen, die Wirklichkeit an- und ernstzunehmen; das Recht der Gedanken, in uns freundliche Mitdenker von ihnen selbst her zu finden, – sie sind die Elemente, in denen eine unabschließbare Weite sich birgt.