Viele Wege führen ins Getto

Die Versuchung zum Getto*

Gegen eine solche Betrachtung läßt sich einwenden: Sich nur bewahren, sich nur verändern oder beides nur äußerlich mischen, ein solches Programm von Kirche existiert nirgendwo im Ernst. Also doch wieder das „weder noch“, mit dem man sich säuberlich zwischen imaginären Extremen durchlavieren und beruhigt bei dem bleiben kann, was ist? Doch ehe die Antwort aufs drängende „aber wie dann?“ versucht werden soll, nochmals ein Anlauf zur Analyse: [72] Woher rührt die Versuchung zum Weg ins Getto? Welches sind „die vielen Wege“ zum Getto, die eingangs anvisiert wurden?

Der gemeinsame Hintergrund für die vielfältigen Versuche der Flucht vor der Situation, die man mit dem Stichwort „Marsch ins Getto?“ zusammenfassen kann, ist der großartige, aber verblassende Schein der Kirche als allumfassender, einziger Kulturmacht des Abendlandes. Das Wort „Schein“ ist in zweierlei Sinn gemeint. Zum einen ist es immer Selbsttäuschung, wenn Christen meinen, das Christentum sei eine selbstverständliche Sache, ist es Verschleierung der fundamentalen Situation des Christentums, wenn eine Epoche sich als christlich geriert, wenn Kirche wähnt, für die Gesellschaft und alle Bereiche ihres Lebens All- und Alleinzuständigkeit zu besitzen. Zum andern ist es aber freilich auch nur Schein, daß dies einfachhin und ohne Differenzierung so gewesen sei, seit die sogenannte konstantinische Wende sich begab. „Es ist zwar nicht mehr so, wie es früher war - aber ist es früher so gewesen, wie es heute nicht mehr ist?“, so wurde kürzlich scherzhaft formuliert. Nun, der Schein in dem, was war, und der Schein von dem, was war, rühren nicht von ungefähr, und sie beide sind, aus ihren sachlichen Anlässen und aus ihrer faktischen Wirkung fürs Bewußtsein her, wirkende Mächte fürs Heute. Der Schock, den nach dem Zeugnis der Evangelien die Jünger erfuhren, als sie entdecken mußten, daß Gottes Reich in Jesus anders einbrach, als sie es sich gedacht hatten, muß von der Kirche immer wieder neu verkraftet werden; er repetiert sich im Schock der Kirche über den je neuen und gerade heute radikalen Verlust wirklichen und vermeintlichen Besitzstandes von gestern. Und genau daraus, daß dieser Schock nicht aus dem Glauben, nicht aus dem Mitgehen des ungewohnten Weges Jesu mitbestanden wird, rührt die Versuchung zur Flucht ins Getto. Eines ist sicher: das Getto heißt nicht Golgota. Und doch eröffnet der Schock darüber, daß alles anders ist und daß es mit dem Glauben und mit der Kirche anders ist, vielfache Wege des Mißverstehens und des Rückzugs.

Natürlich ist der „klassische“ Weg ins Getto jener, auf den Karl Rahners Frage „Marsch ins Getto?“1 hingewiesen hat. Die Fixierung des Gestern, seines Glanzes, seiner Geltung, seiner Gestalt vermag das Gestern nicht einzuholen, sondern verfehlt gerade jenes, was vom Gestern ins Heute zu übersetzen ist, indem dieses Gestern im Heute steril gemacht und so zur abseitigen und abartigen Gestalt [73] am Rand des Heute degradiert wird. Man entdeckt heute, daß es auch gute Neugotik gibt, aber Gotik wird die Neugotik nie.

Ein zweiter Marsch ins Getto ist – unbeschadet des oben Gesagten – die Stilisierung der Diasporasituation, die Stilisierung des „Kreuzes“, an das sich eine Kirche, die an der Zeit vorbeilebt, geheftet fühlt. In der Tat, es kann und es muß den Weg der Kirche ans Kreuz geben. Sie kann nicht darauf verzichten, Skandal, Provokation, Zeichen der Macht Gottes in der eigenen Ohnmacht zu sein. Doch nicht alles, was, gestern verständlich, heute unverständlich wird, ist deswegen vom Heiligen Geist, ist deswegen Torheit des Kreuzes. Was wahrhaft das Kreuz ist, an das die Kirche sich heften lassen muß, um bei ihrem Herrn zu sein, ist nur am Kreuz selber auszumachen, will sagen: in jener doppelten Spannung, die Jesu Kreuz kennzeichnet, in der Spannung der radikalen Zuwendung zum Vater allein und in der ebenso radikalen Zuwendung zu allen. Aus der Situation des Seins bei allen und wie alle muß das unterscheidend Christliche vom Herrn erfragt und in seinem Namen bezeugt werden. Das Kreuz ist kein Apriori, aus dem sich abstrakt ableiten ließe, wie christliches Zeugnis aussieht, es fordert vielmehr den „aposteriorischen“ Mut des Gehorsams bis zur Entäußerung (vgl. Phil 2) und der Liebe bis zum letzten (vgl. Joh 13). Beides schloß sich bei Jesus gegenseitig ein. Er war nur am Vater „interessiert“, er kannte keine andere Rücksicht als die auf seinen Willen. Doch der Vater stellte ihn in dieselbe Reihe mit den Sündern, in die restlose Gemeinschaft mit uns. Er machte ihn zum Ecce-Homo, zum Menschen, der – aus Gottesnähe – alle Gottesferne der Menschheit in seinem Tod am Kreuz kommunizierte. Christliche communio hat immer beide Richtungen: Verlassenheit schließt communio ein, communio hat den Mut zur Verlassenheit zu ihrer Bedingung. So, nur so heißt das Getto niemals Golgata.

Eine weitere Fluchtrichtung, die zum Getto führt, wird bezeichnet durch die esoterische Flucht nach vorn, durch das Hochspielen der eigenen Meinung zur prophetischen Antizipation des Morgen. Natürlich ist Kirche kleine Herde, aber die kleine Herde ist weder der Rest des Gestern im Heute, noch das Fähnlein der Entschiedenen, die sich nur für ihre eigenen Vorstellungen entschieden haben, und mögen diese sogar richtig sein. Es wird immer mühsam sein, die große Truppe aus der Behäbigkeit des Verweilens, aus der Gemütlichkeit des ungestörten Beieinander auf den schmalen und steinigen Weg nach vorn zu locken. Aber wer sich nur davonmacht, der verliert die andern - und oft genug sich selbst dazu. Im Klartext: Gibt [74] es nicht ein Entscheidungs-, ein Gruppen- und Gemeindechristentum, das sich zwar von den Gefahren alter Volkskirchlichkeit lossagt, das sich aber rasch nicht nur vom Gängigen und Biederen, vom Trägen und Verharrenden in der Kirche absetzt, sondern auch vom Kontakt mit den wirklichen Fragen und Problemen der Menschen rundum, vom Gang der Zeit, der man sich gewiß nicht einfachhin anpassen soll, die aber begleitet werden will von der Gemeinschaft dessen, der sich mit unserer Zeit eben gemein gemacht hat?

Bis hierhin mag es sich noch einsehen lassen, daß es sich um Getto handelt, wenn man sich in die genannten Richtungen begibt: das Getto der eigenen Träume vom Gestern, die ins Heute projiziert werden; das Getto des seiner selbst sicheren Verzichts auf Effektivität; das Getto des sektenhaften Eigenbrötlertums im Genuß eines antizipierten Morgen. Doch noch eine letzte Richtung bleibt zu erwähnen, und sie ist vielleicht die gängigste – nur daß man sie für eines gerade nicht hält: für die Richtung aufs Getto zu. Gemeint ist eine „neue Volkskirchlichkeit“, ein Maßnehmen des Christentums an dem, was der durchschnittliche Bürger von heute verkraftet und als zumutbar akzeptiert. Die Hermeneutik der Verstehens- und Assimilierungshorizonte heutigen Lebens wird zum „Lehramt“ darüber, was das Evangelium gemeint haben darf. Das „für alle“, das in der Tat die Richtung des Lebens Jesu ist, wird uminterpretiert zum „für jeden etwas“. Christentum wird zur transzendentalen Erlaubnis an alle, ungestört ihr Einzelappartement im Wolkenkratzer der pluralistischen Gesellschaft zu bewohnen, über dessen Inhumanität als solche man sich im übrigen getrost beklagen darf.

Gewiß, man will trotzdem nicht ganz auf jenes „Salz“ verzichten, welches das Christentum erst „interessant“ macht; doch die Polemik des unbedingten Anspruchs Gottes gegen die Verhärtungen und Verherrlichungen des in sich verschlossenen Ego werden umfunktioniert zum kollektiven und daher nicht mehr so schmerzhaften Schuldbekenntnis gegenüber Dritten, die möglichst weit weg sind, oder zum bloß deklamatorischen Protest gegen Unrecht und Gewalt.

Ein derart apartes Christentum, das sich in den Pluralismus der Gesellschaft nahtlos einfügt und sich zugleich „nonkonformistisch“ gibt, scheint den Ausbruch der Kirche aus dem Getto zu signalisieren. Endlich wieder eine Kirche, mit der man sich in der Gesellschaft sehen lassen kann! Aber das ist es gerade: Der Traum von der Universal- und Superrolle der Kirche von gestern scheint so also doch realisierbar zu sein. Und dieser Traum, heute geträumt, [75] ist die Wurzel, aus der die mannigfachen Gestalten des Gettos sprießen. Das gilt nicht nur abstrakt. Die Kirche, die es schaffte, niemandem mehr weh zu tun, die Kirche, die allen paßte, hätte keinen Grund mehr, warum sie sich nicht einfach in die Gesellschaft hinein auflösen sollte. Und wenn sie es nicht tut, wird sie um Gründe ringen müssen, warum es sie noch geben soll und geben darf. Sie braucht einen „Naturschutzpark“, einen umzäunten Bereich, der ihr dennoch - trotz aller Angleichung ans Allgemeine – allein zusteht. Und Naturschutzpark, Ferienparadies, sind das nicht nur domestizierte Formen von Getto?

Die gezeichneten Versuchungen, dem Gestern konservierend, kontestierend oder in heimlicher Abwandlung verhaftet zu bleiben, vermischen und verwischen sich im konkreten Leben der Kirche. Da es selbstredend in all den genannten Bewegungen, die, absolut gesetzt, die Kirche ins Getto drängen, legitime, ja notwendige Motive gibt, ist es auch schwierig, einzelne Phänomene eindeutig darauf zu fixieren, daß sie in der Linie dieser oder jener der genannten Fluchtwege lägen. Eines aber gibt im ganzen zu denken: die Fixierung der Kirche auf sich selbst.

Es war zwar an der Zeit, daß die Kirche sich auf dem II. Vaticanum einmal so ausführlich zum Thema machte, und es ist auch keineswegs schon alles aufgearbeitet, was da angerissen wurde. Und doch gelingt das Programm einer ecclesia semper reformanda dann gerade nicht, wenn es beständig sich selbst zelebriert. Ein monolithisch alle Zuständigkeiten in sich selbst einbindendes, alles reglementierendes, die anderen zu Konsumenten oder Handlangern degradierendes, in sämtliche Bereiche der Gesellschaft hineindozierendes Amt wäre gewiß dazu angetan, aus der Kirche ein Getto zu machen; Omnipotenz isoliert sich und jene, die sie an sich demonstrieren lassen. Doch nicht nur ein solches Konzept, sondern auch der andauernd feierlich dagegen erhobene Protest sind von gestern. Die Teilhabe aller an der einen Sendung der Kirche, die gemeinsame Verantwortung des gesamten Volkes Gottes, die Vielheit der Kompetenzen, der Charismen und Dienste, dies alles muß dringlich und mit vollem Recht zum Zuge kommen; und es bedarf ganz gewiß der institutionellen Bahnen und Sicherungen. Daran ist noch einiges zu tun. Und doch könnte gerade die sich selbst genügende Freude an der allgemeinen Mitverantwortung oder auch die Hektik, sie immer perfekter und lückenloser auszubauen, der Mentalität des Gettos Vorschub leisten. Wieso? Wenn es der hauptsächliche Inhalt kirchlichen Engagements wird, das Maß der eigenen Mitbe- [76] stimmung zu erweitern, dann dreht sich in der Kirche alles um die Kirche, und nichts ließe sie rascher heraus geraten aus dem kaum erst gewachsenen Dialog mit der Welt. Mitverantwortung muß sein, sie kann aber nur dann die Einheit in Freiheit und Vielfalt garantieren, wenn sie sich nicht dadurch selbst blockiert, daß sie ein „altes“ Amtsverständnis auf sich überträgt; sie muß, in der Begrenzung auf das sinnvoll ihr Mögliche, nicht nur dem Amt, sondern auch den freien Kräften und Initiativen in der Kirche den genuinen Raum der Eigenverantwortung belassen. Nicht alles, was Christen tun und was Kirche tut, darf sofort auch kirchenamtlich, darf „im Namen der Kirche“ getan werden.

Die Alternative zur introvertierten Kirche scheint eine politische Kirche zu sein. Es gibt indessen zu denken, daß man das Politische zum hermeneutischen Prinzip des Christlichen erklären kann und daß zugleich die innerkirchliche Aktivität sich immer mehr vor den konkreten Problemen in der Welt auf sich selbst zurückzieht, diese Ratlosigkeit allenfalls mit Protesten und Deklarationen abgeltend. Eine sich primär „politisch“ verstehende Kirche hätte übrigens die sicherste Garantie, unpolitisch zu werden. Nur aus der Spannung des Politischen zu dem, was sich politisch nicht operationalisieren und intendieren läßt, wird der Beitrag der Kirche gerade auch für die Gesellschaft interessant und relevant. Uniforme Kirche von oben oder uniforme Kirche von unten, politische Kirche von gestern oder politische pressure group fürs vermutete Morgen wären gleicherweise Gettokirche.


  1. In: Stimmen der Zeit 1 (1972) 1f. ↩︎