Glauben – wie geht das?

Die vielen Letzten Dinge und das Eine Letzte

Eschatologie, theologische Lehre von den Letzten Dingen setzt hier an, setzt an bei der Verwandlung von Ende und Endlichkeit durch das Geschenk der größten Liebe Gottes, durch die Verwandlung unserer Endlichkeit und unseres Endes in der Todeshingabe Jesu und in seinem neuen Leben, das Anfang unseres Lebens ist. Von hier aus, von dem Punkt aus, an dem die Herrschaft Gottes durchbricht in unsere Endlichkeit und sie von innen her ereilt, heilt und neu werden läßt, hat christlicher Glaube seine Zukunft zu lesen, von hier aus geht Glaube auf die Zukunft, auf das Ende unseres Lebens und auf das erfüllte Leben ohne Ende zu.

Die Letzten Dinge: Sein beim Vater, Gemeinschaft der Heiligen, Leben im Geist

Unmittelbar aus Kreuz und Auferstehung her gibt es für den Christen eigentlich nur drei Letzte Dinge.

Jesus ist für uns zum Vater gegangen, mit ihm ist unser Leben verborgen beim Vater, verborgen in Gott (vgl. Kol 3,3). Für uns ist Jesus zum Vater heimgekehrt, um uns dort, im Hause des Vaters, die bleibende Wohnung zu bereiten (vgl. Joh 14,2–4). Dort, wo Jesus ist, beim Vater, dort ist das Letzte, auf das wir zugehen; unsere letzte, endgültige Daseinsstation heißt, kraft der christlichen Hoffnung, Sein beim Vater. So wenigstens, wenn wir auf dem Weg bleiben, der uns eröffnet ist und auf den wir in Taufe und Glaube mitgenommen sind, Jesus Christus, welcher der Weg ist (vgl. Joh 14,6).

Doch mit dem Vater sind uns jene mitgeschenkt, die zum selben Leben, zum selben Bleiben beim Vater berufen sind, jene, für welche Jesus Christus gestorben ist. Die Brüder, die Welt, die Menschheit sind uns geschenkt. Unser Leben und Sterben ist nicht nur ein Hindurchgehen durch die Welt, ein Vorbeigehen an den Menschen, ein Abschiednehmen von Menschen und Welt, sondern Leben und Sterben sind Zugehen auf die Menschen und die Welt. Zu den Letz- [204] ten Dingen gehört entscheidend die Communio Sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen hinzu. Wir werden nicht in privater Seligkeit nur Gott anschauen, sondern wir werden mit Jesus zu Tische sitzen im Reich des Vaters und so miteinander. Eucharistiegemeinschaft ist Vorwegnahme des himmlischen Hochzeitsmahles, der bleibenden Gemeinschaft mit den Erlösten. Und diese Gemeinschaft fängt schon jetzt an nicht nur hier auf Erden, sondern im bleibenden Kontakt mit denen, die uns im Zeichen des Glaubens vorangegangen sind und bei Gott leben (vgl. Mt 22,32).

Ein drittes Mal müssen wir ansetzen, um aus dem Blickwinkel von Ostern die Letzten Dinge beim Namen zu nennen. Die Letzten Dinge werden nicht nur später einmal sein. Nein, das Letzte ist schon gültig und ganz Gegenwart in einer anderen Dimension, in der des Heiligen Geistes. Gott hat sein Innerstes schon jetzt in unser Herz hineingegeben, wir leben schon jetzt im Innenraum Gottes, in jener ganzen und unendlichen Liebe, die den Vater und den Sohn miteinander verbindet, weil wir im Heiligen Geist schon jetzt „Abba, lieber Vater“ rufen dürfen, weil wir schon jetzt im Heiligen Geist Vater und Sohn bei uns zu Gast haben dürfen (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6; Joh 14,23).

Die Letzten Dinge und die Liebe

In diesen drei Letzten Dingen – Sein beim Vater, Gemeinschaft der Heiligen, Sein im Geist – haben wir alles, haben wir das Ganze, was uns bevorsteht, das Ganze, was am Ende kommen wird. Aber dieses Ganze hat noch eine andere Seite. Gottes Heilswille ist ungetrübt, Gottes Liebe ist ohne Schatten. Aber diese Liebe „geht“ anders, als wir von uns aus ihren Gang vorzustellen geneigt sind. Gottes Liebe als Liebe zu verstehen, erfordert von uns eine beständig neue Umkehr – eine Umkehrung der Vorstellungen, die nicht weniger radikal ist als jene, die Jesus seinen Jüngern zumutete, da er ihnen sagte, daß Gottes Herrschaft kommt durch seinen Tod, durch sein Kreuz hindurch.

Gottes Liebe kommt durch unseren Tod hindurch, kommt in un- [205] seren Tod. Angesichts so vieler tragischer Trennungen und Schicksale, so vieler Ängste und Unsicherheiten sind wir immer wieder versucht zu fragen: Ist das wirklich notwendig? Hätte Gott es nicht anders machen können? Warum ist durch Jesu Tod und Auferstehung nicht unser Sterben abgeschafft worden? Aber dreht Gott jemals das Rad zurück? Er schafft das, was einmal in der Geschichte gekommen ist, nicht ab. Er dreht das Rad weiter. Und so ist es die Gangart seiner Liebe, daß er die Welt, die einmal unter das Gesetz von Vergehen und Sterben geriet, nicht wieder zurückholt in den paradiesischen Zustand, sondern daß er in Sterben und Auferstehung Jesu einen Schritt nach vorne tut. Der Tod bleibt, solange diese Weltzeit bleibt, aber der Tod wird verwandelt. Er wird Gemeinschaft mit dem Sterben Christi. Er wird unsere Chance, der größten Liebe, die es gibt und die sich für uns gegeben hat, Antwort zu geben. Nur in einer solchen Antwort holen wir uns selbst, holen wir die Erfahrung der Endlichkeit, Gefallenheit und Verfallenheit ein. Nur so wird Liebe Gottes nicht als eine Lösung von oben auf unsere ungelösten Probleme „aufgepfropft“, sondern werden sie von innen her eingeholt und verwandelt.

Christliches Sterben ist durch solche Verwandlung nicht einfachhin „schönes Sterben“ geworden. Sicherlich, es gibt bewegende Zeugnisse dessen, wie sehr der Tod sichtbare Gestalt und eindringliches Zeichen von Glaube, Hoffnung und Liebe zu werden vermag. Aber es gibt auch das Andere, das Sterben Glaubender in Verlassenheit und Unsicherheit und Angst, die uns nur an den Todesschrei Jesu am Kreuz, nur an seinen Ruf erinnern können: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Was in Jesus, in seinem Schicksal geschehen ist, das will auch im Schicksal jener geschehen und sichtbar werden, die seinen Weg mitgehen: Heimholung der Ferne, Ausfüllung der Abgründe, Durchschreiten des dichtesten Dunkels als Weg zum Vater. Alles christliche Sterben ist berufen, Jesu Sterben gleichgestaltet zu werden, Anteil an seinem Weg zu sein, Ort der Begegnung mit der größten Liebe und zugleich Antwort auf diese größte Liebe. Auch wo der Christ nicht für sich oder für andere erfahrbar in seinem Sterben das Sterben Jesu mitzuvoll- [206] ziehen vermag, ist dieses Sterben eingebunden in die Schicksalsgemeinschaft mit Jesus, ist es hineingetaucht in Jesu Tod. Das, was von solchem christlichen Sterben nach außen dringt, mag Widerhall der Erlöstheit unseres Todes durch Jesus oder Widerhall jener Todesnot sein, die er aus Liebe zu uns zu der seinen machte: so oder so ist es hineingenommen in Jesu Sterben und Auferstehung.

Dieser Vorrang und dieses Übergewicht des Todes Jesu in unserem Sterben ist der größte Trost und die größte Hoffnung, die wir auf Erden haben. Wohin wir unterwegs sind, wir sind zum Weg Jesu unterwegs, und er selbst wird uns auf seinem Weg geleiten.

Und doch ist dieses Bewußtsein alles eher als eine „Versicherung“, alles eher als ein „Automatismus“. Dies ist der zweite, aufs erste befremdliche, unseren Glauben herausfordernde Zug der Liebe Gottes. Sie ist nicht nur eine Liebe, die dem Geliebten nichts erspart – Gott hat das Rad des Todes nicht zurückgedreht –, sondern sie ist auch Liebe, die uns die freie Antwort nicht erspart. Ja, so ist wahre Liebe. Sie nimmt den ernst, dem sie gilt, sie setzt frei, aber sie fordert die Freiheit, die sie freisetzt, auch heraus, nimmt sie in Anspruch. Auch wenn die Liebe nichts erwartet und keine Ansprüche stellt, sie selber ist ein Anspruch an den, dem sie gilt. Anderenfalls würde dieser ja zu ihrem bloßen Objekt, er würde bestenfalls Konsument, nie aber Partner. Liebe ist immer gefährlich. Sogar für Gott. Sicher, er kann nicht aufhören, Gott zu sein, Vater und Sohn und Geist können sich nie untreu werden. Aber weil Gott Liebe ist, kann er sich selbst für uns, für seine Schöpfung aufs Spiel setzen, Gottes Sohn kann unser Bruder werden, kann unseren Tod sterben, kann sich verwunden lassen von unserer Liebe und in dieser Verwundung liebend unsere eigene Gottferne auskosten. Für uns ist Gottes Liebe gefährlich, weil sie uns alles schenkt, weil ihr Geschenk aber nur bei dem ankommen kann, der es annimmt, der sich ihm öffnet.

Im Tod erwartet uns so Gottes unendliche Liebe – doch die Begegnung mit der unendlichen Liebe ist unser Gericht. Nicht daß Gott kleinlich Versagen, Verfehlungen, Verdienste aufrechnen wollte, aber wir bringen uns einfach mit vor diese Liebe, so wie wir [207] sind. Sicherlich, es wäre nicht gut, vorwitzig sich auszumalen, wie das ist, wenn man im Tod vor Gott hintritt. Wir sollen es ihm überlassen, und wir können es getrost dem überlassen, der uns bis zum Äußersten geliebt hat. Ein Heiliger formulierte es einmal so: Wenn ich die Wahl hätte, in meinem Tod vor meine eigene Mutter hintreten zu müssen, um gerichtet zu werden, oder vor Jesus Christus, so würde ich ohne Zögern Jesus Christus als Richter vorziehen.

Und doch ist es nicht eine glaubensschwache Ängstlichkeit, wenn wir vor dem Augenblick der Begegnung mit der größten Liebe erzittern. Wir werden von der Liebe, weil sie Liebe ist, in unsere Wahrheit gestellt. Bei der Liebe kann es letztlich nur die Liebe aushalten. Nur der Liebe kann die Liebe das größte Glück bringen. Das was nicht Liebe ist an uns, muß verbrennen, muß sich in Liebe verwandeln.

Geht es uns nicht schon so bei der Begegnung mit einem Menschen, dem wir vielleicht nicht immer gerecht geworden sind, über den wir diesen oder jenen Verdacht, dieses oder jenes Urteil hegten? Nun treten wir vor ihn hin, und wir finden lautere Liebe vor, lauteres Verstehen, auch wenn er alles von uns weiß. Dann schmerzt es uns umso mehr, daß wir ihm nicht gerecht geworden sind. Die Freude, nun doch von ihm angenommen zu werden und unbefangen mit ihm sprechen zu dürfen, muß durch diesen Schmerz hindurch, in dem das uns selber auf der Seele brennt und von der Seele wegbrennt, was wir gegen ihn unaufgearbeitet in uns tragen.

Läßt sich nicht so das „Fegfeuer“ verstehen? Das, was bislang noch an Nein zur Liebe Gottes in uns lebte, aber auch die Wunden, die ein einmal gesprochenes Nein in unserer Seele zurückläßt, das, was noch nicht ausgefüllt und umgeformt ist vom Ja zur Liebe, das ist angesichts der unendlichen Liebe da als Schmerz, der den Prozeß der Umwandlung in die Liebe begleitet.

Aber dürfen wir das andere Schreckliche ausschließen? Kann es nicht auch jenes Nein zur Liebe Gottes in uns geben, das sich selbst festhält, verhärtet, abschirmt gegen diese Liebe Gottes? Hölle kennt kein anderes Feuer als das der Liebe Gottes. Aber wo Gottes Liebe auftrifft auf unser Nein, da wird diese Begegnung zur Spannung, [208] und diese Spannung ist deswegen das „Letzte“ für den Menschen, weil Gottes Liebe das Letzte ist. Wer selbstsicher sagte: Ich bin ja offen für die Liebe, ich wehre mich nicht gegen sie – hat der die Liebe verstanden? Wir können nur von der Hoffnung leben, daß in uns seine Liebe stärker sein möge als alle unsere Selbstherrlichkeit, Verschlossenheit, Enge und auf sich selbst fixierte Schwäche. Aber solches Vertrauen macht gerade keine Rechnung, es ist ganz anderer Art als jene Sicherheit, die sich auf sich selbst verläßt – und so gerade nicht mehr Antwort auf die Liebe ist. Gottes Liebe hat mich schon gerettet – aber bis zur letzten Stunde bleibt es mir aufgetragen, daß ich mich ihr ganz anvertrauen, ihr antworte, mich von ihr wahrhaft retten lasse.

Gib mir, daß ich mich von dir retten lasse! Gib mir, daß nie jene Selbstherrlichkeit und nie jene Feigheit und nie jene Bequemlichkeit in mir die Oberhand gewinnen, die den Prozeß deiner Liebe in mir zum Erlahmen bringen, den Prozeß, in dem ich in das verwandelt werde, was du bist, in reine Liebe!

Gottes Herrschaft ist die Herrschaft der reinen und ganzen Liebe. Das, was in Einklang steht mit dieser Liebe, wird Seligkeit, Erfüllung, Heil in sich erfahren. Alles in mir, was nicht Liebe ist, muß verbrennen. Das ist das einzig Notwendige, was geschehen muß – und es muß sofort geschehen, Augenblick für Augenblick geschehen. Ein solches Leben für den „Himmel“ ist die stärkste Kraft, um auch diese Erde zu verwandeln, um schon jetzt aus den Verhältnissen dieser Erde und dieser Gesellschaft ein Zeichen für Gottes anbrechendes Heil werden zu lassen. Wer in sich und um sich herum alles in Liebe verwandelt, wer also aufs Letzte zulebt, dem können kein Leid und keine Not auf Erden, dem können kein Mensch und keine Ungerechtigkeit zwischen den Menschen, dem können keine Aufgabe, keine Krise und keine Chance im Hier und Jetzt gleichgültig sein. Himmel und Erde sind in der Ordnung des anbrechenden Gottesreiches, in der Ordnung einer Eschatologie der Liebe unlösbar miteinander verbunden. Die Liebe macht alles neu. Die Liebe sieht aber auch alles neu. Sie leidet unter der Tragik der Endlichkeit, die uns nicht nur in der [209] menschlichen Geschichte, sondern auch in der Schöpfung begegnet: Einer lebt vom anderen, eines verzehrt das andere, eines geht auf über dem Untergang des anderen. Ist nicht selbst solche Tragik verschleiertes „Für“ und somit der vorläufige, endliche, ja entstellte und verfremdete Lebensrhythmus der Liebe, von dem wir eingangs sprachen? Endlichkeit als Hinleben auf ein anderes und somit christlich als Spiegel des göttlichen Lebens, das Leben füreinander, Hingabe aneinander ist? Daß der neue Himmel nicht nur die Privatkabine einer individuellen Seligkeit ist, sondern der Raum jener umfassenden Gemeinschaft, in der Sein mit Gott Sein miteinander und Sein füreinander bedeuten, Communio Sanctorum, war uns schon aufgegangen. Nun aber sehen wir des weiteren: Zum neuen Himmel gehört auch die neue Erde hinzu, die verwandelte Schöpfung, die jetzt noch in Geburtswehen liegt (vgl. Röm 8,18–25).

Zur Auferstehung des Fleisches, zur Erlösung unseres Leibes gehört die Erlösung der Schöpfung – wie auch immer – dazu. Das Wie können wir getrost der Liebe überlassen, die alles und gerade auch die Dinge, den Stoff, das Leben als Gabe und somit als Spur auf dem göttlichen Weg der Liebe erschaffen hat.

So gehen wir zu aufs Einmal der Vollendung von Welt und Geschichte, der Gleichzeitigkeit des All im einen Letzten, was es gibt, in der Gemeinschaft der einen, unendlichen, dreifaltigen Liebe, die Gott selber ist, der Gott, der sich uns gibt.