Neuer Ansatz in Sicht?

Die wechselnden Gesichter der Nachkriegsjahrzehnte

Bei einer breitangelegten Umfrage unter allen Katholiken der Bundesrepublik1 sprang als augenfälligstes Ergebnis heraus, daß die Wertvorstellungen und Interessen der Mehrheit nicht mehr mit denen der Kirche und der christlichen Überlieferung übereinstimmen. So empfindet es wenigstens die große Zahl der Katholiken selbst. Wo aber die Wertvorstellungen und Interessen auseinanderklaffen, da nimmt die Bereitschaft ab, sich aktiv am kirchlichen Leben zu beteiligen, wie dieselbe Untersuchung nachweist. Kirche und Gesellschaft wachsen also offenbar auseinander, die Entwicklung in der Kirche und die Entwicklung in der Gesellschaft verlaufen getrennt.

Dies ist indessen nur die eine Seite. Die andere verdient ebensoviel Beachtung: Spätestens seit Ende des letzten Weltkrieges lösen sich im allgemeinen Bewußtsein verhältnismäßig rasch geistige Strömungen ab, die nicht nur in Kultur und Wissenschaft, sondern auch in den Problemen und Interessen der Menschen ihren Widerhall finden. Diese Wellen der Entwicklung bestimmen aber auch die Theologie und die Weise, wie Christen ihren Glauben und ihre Kirche erleben. Was in der Gesellschaft „Mode“ ist, wird es auch in der Kirche.

Gerade der rasche Wandel dessen, was jeweils hoch im Kurs steht, macht es schwer, eine Analyse des Zeitbewußtseins so verläßlich vorzunehmen, daß pastorale Planung sich darauf einstellen kann. Bücher, die vor wenigen Jahren als besonders lebensnah und situationsgerecht erschienen, tauchen heute schon in Antiquariaten auf.

Doch versuchen wir einmal, diese Zeitspanne seit dem letzten Weltkrieg zu überschauen. Plakativ und vergröbert [13] gesagt, hießen die Stichworte der fünfziger Jahre: der Einzelne, das Gewissen, die Situation – man kann von einer existentiellen Welle sprechen; hießen die Stichworte der sechziger Jahre: Gesellschaft, Menschheit, Zukunft – man kann von einer sozialen Welle sprechen; hießen die Stichworte der siebziger Jahre bislang: Sinn, Selbstfindung, Selbstverwirklichung, vielleicht gar Meditation – man könnte von einer psychologischen oder von einer Welle neuer Innerlichkeit sprechen. Natürlich spielen die genannten Stichworte nicht nur im jeweiligen Jahrzehnt eine Rolle, natürlich überschneiden und mischen sich die Wellen, und die geistesgeschichtlichen Hintergründe – z. B. die Existenzphilosophie – heben beileibe nicht erst dann an, wenn aus diesen Hintergründen etwas ins Rampenlicht, an die Oberfläche tritt. Dennoch mag es nützlich sein, in kurzen Strichen ein Modell zu entwerfen, wie es zu diesen unterschiedlichen Wellen kam und was sie über den Augenblick hinaus uns auszusagen haben.


  1. (Anm. d. Bearb.) Vgl. Schmidtchen, Gerhard (Hg.): Zwischen Kirche und Gesellschaft. Forschungsbericht über die Umfragen zur Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg i. Br. 1972. Forster, K. (Hg.): Befragte Katholiken. Zur Zukunft von Glaube und Kirche, Freiburg i. Br. 1973. ↩︎