Der Weg zur Einheit der Christen als geistlicher Weg

Die „Wegmarken“des geistlichen Weges zur Einheit

In einem schematisierenden Gang der Auslegung lassen sich diesem Abschnitt fünf wesenhafte Momente des geistlichen Weges abgewinnen, der von innen her den Weg zur Einheit der Christen erschließt und trägt.

Eine Vorbemerkung hierzu. Vers 5 ist in der Einheitsübersetzung wiedergegeben: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht.“ In peinlicher Wörtlichkeit gemäß dem Urtext wäre zu sagen: „Sinnet (phroneite) das in euch (es wird zu Recht in diesem Kontext die ebenso ursprüngliche Verstehensmöglichkeit bevorzugt: zwischen euch, unter euch), was auch in Christus Jesus.“ Sicher ist die geforderte Gesinnung jene, die dem Leben in Christus Jesus entspricht. Aber die Beziehung geht nicht nur auf eine [35] Entsprechung zu dem Leben, das wir in Jesus Christus führen, sondern auf jenes Leben, das wir in Jesus Christus als sein eigenes finden, zu dem also, was wir als das Eigene Jesu Christi, als zugleich Heilsereignis und personale Qualität bekennen. Es geht nicht nur um die Anwendung einer dem Leben in Christus entsprechenden Mentalität auf das Miteinander, sondern um den Inhalt des Glaubens, des Bekenntnisses selbst: Zu Jesus Christus gehört sein in Erniedrigung und Erhöhung vollzogenes Verhältnis zum Vater – und dies soll die Mentalität, die Betrachtungs- und Verhaltensweise zwischen uns bestimmen.

Erstes Moment: Der Anknüpfungspunkt der Paränese im Hymnus ist die Unterwerfung des gottgleichen, ins Geheimnis Gottes hineingehörenden Sohnes unter den Vater. Dieser sein Gehorsam, der bis zum äußersten geht, Gehorsam bis zum Tode wird, diese Entleerung (Kenosis), Destruktion des eigenen „Schemas“, der eigenen Existenzgestalt, kehrt in doppelter Stellung im Text wieder.

Einmal und vor allem im Inhalt der Ermahnung. Wenn schon derjenige, der Gott gleich ist, der zu Gott gehört, sich loslässt und unterwirft, wie willst dann du, der du durch diesen Gehorsam Christi erlöst bist, deine Gleichheit, deinen Anspruch, dein Recht gegenüber deinem Miterlösten und Mitglaubenden aufrecht erhalten? Mußt nicht auch du bereit sein, den anderen höher einzuschätzen als dich? Es geht keineswegs um eine Aufkündigung des Gehorsams gegenüber der als verbindlich erkannten Wahrheit, ganz im Gegenteil. Aber wenn sie allein zählt und gilt, dann zählt und gilt eben auch ihr Anspruch auf deine ganze Person, auf deine Bereitschaft, ein Hörender, Empfangender, in Liebe Dienender gegenüber deinem Nächsten zu sein. Der Gottesgehorsam Jesu, an dem du teilhaben sollst, erfordert dieselbe Haltung des Loslassens, des Kleinseins, der Verfügbarkeit auch dem Nächsten gegenüber, der sich zum selben Herrn bekennt.

Zum andern scheint, latent und mehr mittelbar, aber strukturell doch plausibel, dieses selbe Verhältnis nochmals im motivierenden Ansatz des Ganzen, in der Aussage von Vers 1, wiederzukehren. Hier bringt der Verfasser die apostolische Autorität ins Spiel. So kann er, das Evangelium verkündend, das Hören und Gehorchen der Gemeinde einfordern. Wir können nur in solchem Gehorsam gegenüber der Verkündigung zum Glauben kommen, und dieser selbe Gehorsam, der uns das Evangelium als Bekenntnis annehmen läßt, weist uns hier ein, das Evangelium als Lebensform, als Prinzip unseres gegenseitigen Verhaltens zu verwirklichen.

Fazit dieses ersten Momentes: Angel und Ansatz aller Einheit ist unsere Einheit nach dem Maße Jesu mit dem Willen des Vaters; und das Hineingehen in seinen Gehorsam, unsere Entscheidung für Gott und seinen Willen allein öffnet sich von innen und ursprungshaft bereits über ein bloßes persönliches Verhältnis des einzelnen zu Jesus Christus hinaus a) in die gemeinsame Unterwerfung unter Gottes Willen und b) in die gegenseitige Demut, Hörwilligkeit, Annahmebereitschaft.

[36] Zweites Moment: Der Christushymnus ist als Kerygma, als Wort der Verkündigung zu verstehen. Gottes Wort ist uns gesagt, auf daß es uns Wort des Lebens sei, und es ist uns nur Wort des Lebens, wenn es uns Wort des Lebens miteinander wird.

Gehorcht Gott! – das heißt: Nehmt das Wort an. Dieses Wort wird angenommen im Glauben. Dieser Glaube, in welchem wir uns ganz verlassen auf dieses Wort, hineinlassen in dieses Wort, nimmt aber unser eigenes Leben in sich hinein. Das Wort spendet uns Leben. An dieses Wort glaubend, haben wir Leben. Doch dieses Leben, das ganz und gar Geschenk und Gnade ist, will gelebt werden, will unser Leben bestimmen. Leben ist von seinem Wesen her Selbstvollzug, der das, was nicht nur ich bin, das was ich nicht von mir her habe, vollzieht und darin erst sich selber. Das Gnadenhafte des Wortes löscht nicht uns selber aus, wenn auch unser Eigenes nicht im Sinne einer Addition, die die Einzigkeit des Wortes minderte, hinzukommt. Geschenkt, ist unser Leben nicht weniger unser Leben. Und im Vollzug heißt das: Laß dein eigenes Leben, laß dein Ichsagen hinein in dieses Wort, so daß nicht mehr du nur das Wort sagst, sondern das Wort dich, dein Leben sage. Darum geht es in jener bereits zitierten Gleichung, welche Vers 5 vornimmt. Was in Jesus Christus ist, soll unser Sinnen, unser Denken und Verhalten werden. Dieses Denken und Verhalten ist zwar je das meine, aber es macht als das meine nicht bei mir Halt. Das eine Wort, das in dir lebt und in mir, geht in unserem Leben nur auf, wenn wir das Wort miteinander leben. Gottes Wort als Wort des Lebens, unser Leben als Leben des Wortes, dieses Leben als Austausch und Gemeinschaft im Wort: das ist der Inhalt dieses zweiten Momentes.

Der Weg der Christen zueinander gelingt nur als Weg des Wortes und im Wort. Je mehr das von den Christen geglaubte Wort ihr ganzes Sinnen, Denken, Verhalten und auch ihre Kommunikation miteinander bestimmt, desto heller wird dieses Wort sein eines Licht in den vielen Herzen entzünden. Leben aus dem Wort, Kommunion im Wort sind die unmittelbare Anwendung des Glaubensgehorsams, der Entscheidung für Gottes Ruf und Geschenk in Jesus Christus.

Drittes Moment: Die innere Mitte des Ganzen ist das Kreuz Christi. Fassen wir dies doch näher ins Auge. Das Ziel, auf das die apostolische Ermahnung es absieht, ist die Einheit im Denken und Leben der Gemeinde, eingeführt und zusammengefaßt nach der insistierenden Einleitung der Verse 1 und 2a (zentriert im Ausdruck koinonia pneumatos) im ersten Glied von 2b: „daß ihr eines Sinnes seid“, wörtlich: daß ihr dasselbe sinnt (hina to auto phronete). Dieses Motiv, akzentuiert durch seine Wiederholung noch im selben Vers (wörtlich: daß ihr das eine sinnt, to hen phronountes), lenkt auf Vers 5 hin (en hymin phroneite), der das Gelenk bildet zwischen dem Bezugstext des Christushymnus und der auf ihn gründenden, ihm vorausgestellten apostolischen Ermahnung. Hier ist also dieses „Sinnen“ nochmals aufgegriffen und auf Christus bezogen. Was aber ist im Gesinntsein Christi das die Einheit bildende Moment, was der Weg, der im Bemühen der Gemeinde um die Einheit in stren- [37] ger Entsprechung zu Jesus Christus steht? Wir sahen es bereits: seine Entäußerung (Kenose), seine Annahme der Knechtsgestalt, sein Gehorsam bis zum Tode. Nicht festhalten, sondern loslassen, sich freigeben von der Gottesgestalt in die Knechtsgestalt, die in der menschlichen Niedrigkeit sich darbietet, und in dieser menschlichen Niedrigkeit nochmals bis zum Niedersten, bis zum Nullpunkt menschlichen Lebens gehen, in den Tod am Kreuz, in das Nicht – dies ist der paulinische Ausdruck für jene abgründige Realität, welche Markus und Matthäus uns vor Augen stellen im Gebet und Schrei der Gottverlassenheit Jesu, der den 22. Psalm betet: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2; Mk 15,34; Mt 27,46)

Dieses Weggehen von Gott, um gerade ihm ganz zu gehorchen, bis ins Innerste die Einheit mit ihm zu leben, dieses Nichtbestehen auf sich, um allein ihn aufgehen zu lassen, johanneisch dürfen wir sagen: dieses Verherrlichen des Vaters (vgl. z. B. Joh 17,4) ist freilich unendlich mehr als nur eine „Methode“. Es ist der Ort, an dem Erlösung geschieht, das Ereignis der Versöhnung und Einung zwischen Gott und Mensch in der bis zum Äußersten geschichtlich und menschlich gelebten Einheit des Sohnes mit dem Vater. Darüber reflektiert unser Text nicht, aber der Substanz nach umgreift er dies, da eben das von den Gemeindegliedern geforderte Eingehen in das Sinnen Jesu im Innern der Gemeinde genau diese Wirkung hat: Einung, Versöhnung, Verbundenheit. Und diese Einung, Versöhnung, Verbundenheit wird erwirkt durch ein Verhalten nach dem Maß Christi. Der Erniedrigung, Entäußerung, gehorsamen Sterbebereitschaft Jesu entspricht im Verhältnis der Gemeindeglieder zueinander: „... in Demut schätze einer den anderen höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.“ (Vers 3b und 4) – Der Urtext läßt an seiner betonenden Umständlichkeit erspüren, wie wichtig es dem Apostel ist, daß solches Verhalten zwischen einem jeden und einem jeden (ta heautón hekastoi-ta heteron hekastoi) in der Gemeinde Platz greife.

Bringt man diese Verhältnisse in Anschlag, so läßt sich sagen: Lebt zwischen euch das österliche Geheimnis der Hingabe Jesu! Wir dürfen uns an das Neue Gebot nach Johannes erinnern: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ (Joh 13,34) Aber eigentlich weist unser Text noch in eine tiefere Schicht dieses Vorgangs, die dann im 17. Johanneskapitel (Verse 21–23) ausdrücklich wird: Liebt einander, wie der Herr, euch liebend bis zum Tod, den Vater bis zum Tod liebte, in der liebenden Angleichung an euch, euern Tod, euer Sein ohne Gott ganz eins machte mit ihm. In unserer Liebe zueinander – dieses Wort ist in unserem Text ebenfalls doppelt betont (Vers 1 und Vers 2) – ergreifen wir nicht nur Jesu Liebe zu uns, sondern die Liebe, die diese Liebe zu uns trägt, umfängt und die in ihr sich mitteilt: die Liebe des Sohnes zum Vater.

Diese Liebe zum Vater und diese Liebe zu uns sind eins, sie haben auch in Gestalt und Ereignis ihre eine Mitte und ihre eine Vollendung: im Tod am Kreuz. Der Tod am Kreuz als der Punkt unserer Versöhnung mit Gott ist aber auch der Punkt unseres Versöhntseins miteinander. Und auf dem Weg zuein- [38] ander gibt es kein Vorbei an diesem Kreuz; nein, dieser Weg führt mitten durch das Kreuz hindurch, das zwischen uns aufgerichtet ist. Nur indem wir dieses Kreuz als sein Kreuz ergreifen und darin frei werden von uns und offen für den andern – das genaue Gegenteil harmlosen Ausweichens vor Spannungen und Gegensätzen –, öffnet sich der Zugang zur Einheit. Weil wir in seinem Kreuz von ihm her, in seiner Liebe, schon eins sind, können wir nicht ruhen, bis wir durch sein Kreuz hindurch auch miteinander eins werden. Uns loslassen, das Kreuz aushalten, so uns vom Gekreuzigten und seiner Liebe aushalten lassen: das ist der österliche Weg zur Einheit.

Viertes Moment: Im Christushymnus kann es keinen Abschluß mit der Erniedrigung und mit dem Tode am Kreuze geben. Der Weg nach unten ist Weg nach oben, der Weg, der in die Ferne vom Vater, in das Nicht und Anders der Gottgestaltung gegenüber führt, vollendet sich in der Herrlichkeit dieser Gottgestalt. Den drei Versen des Abstiegs (6–8) entsprechen die drei Verse des Aufstiegs (9–11). Die Logik des 17. Johanneskapitels zeigt sich auch hier: Der den Vater verherrlicht, er wird auch vom Vater verherrlicht (vgl. Joh 17,5). Die Verherrlichung, die Erhöhung des Sohnes im Philipperhymnus gewinnt zugleich kosmische, geschichtliche, menschheitliche Dimension: Jedes Knie muß sich beugen im Namen Jesu, jede Zunge ihn bekennen. Und das Bekenntnis der Kirche ist der Ort, wo schon jetzt und mitten drinnen in der Geschichte solche Verherrlichung geschieht: „Jesus ist der Herr“. Und wie die Erniedrigung des Sohnes geschah aus Gehorsam gegen den Vater, um den Vater zu verherrlichen, so geschieht jetzt das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn als Verherrlichung des Vaters (11b).

Ist dieser Abschnitt nur ein festlicher Nachtrag zu dem „Eigentlichen“, das in der Übernahme der Demut und Selbsterniedrigung Jesu durch die Gemeindeglieder in ihrem gegenseitigen Verhältnis besteht? Im Gesamtduktus unseres Textes: nein. Der Apostel setzt in Vers 1 sein Potential des Werbens und Beschwörens ein, damit die Glieder der Gemeinde seine Freude vollkommen werden lassen (Vers 2a). Und sie wird vollkommen, indem sie eines Sinnes werden, die eine und selbe Liebe zwischen ihnen steht, so daß sie ihre Seele gemeinsam haben, eine Seele miteinander werden (vgl. 2b, sympsychoi). Dieser Zustand der Gemeinde, so dürfen wir sagen, ist nicht nur für deren Glieder zuträglich und für die Glaubwürdigkeit nach außen nützlich; es ist der Zustand selbst, in welchem die Verherrlichung Christi, das Bekenntnis seines Herrseins, der Glanz seiner Erhöhung präsent werden. Es geht nicht um eine zur österlichen und geistlichen Realität der Gemeinde zusätzliche moralische Qualifizierung des Gemeindelebens, sondern um die Gemeinde als den Raum der Gegenwart des österlichen, erhöhten Christus.

Es ist gewiß gestattet, in die andere und dennoch verwandte Denkwelt des 18. Matthäuskapitels hinüberzublicken. Es lohnte sich, die dort in der Gemeinderede verwobenen Texte zu erhellen: Rang des Kleinseins, Bereitschaft zur Vergebung, brüderlicher Umgang. Zentral freilich sind hier die Verse 19 und 20, die auf das Zusammenspiel und den Zusammenklang („symphonein“) [39] abheben, die uns der Erhörung aller unserer Bitten durch den Vater gewiß sein lassen, weil in solcher Einheit in seinem Namen Jesus selbst, der Sohn des Vaters, in unserer Mitte ist. Das Fazit des vierten Momentes: Den Kreuzungsgehorsam Jesu als die Form unseres gegenseitigen Verhältnisses zu leben, das heißt so leben, daß der Herr selber in unserer Mitte leben kann – und nur er kann durch seinen Geist die Einheit schenken.

Fünftes Moment: Es konnte bei der Beziehung der ersten vier Verse durch den fünften Vers auf die Verse 6–11 des Christushymnus nicht unterbleiben, daß immer und immer wieder das trinitarische Verhältnis des Sohnes zum Vater und des Vaters zum Sohn im selben Geist sich als Grund, Ermöglichung und Maß der Einheit, die uns aufgegeben ist, zeigte. In der Tat kann Kirche nur leben „als das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk“ (Lumen gentium 4; vgl. Cyprian, De Orat. Dom. 23). Auf diese Begriffsbestimmung läuft die in weitem Bogen angesetzte Grundlegung der Dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche hin. Die hierbei bemühte Formel des Cyprian hat ihren Sitz im Leben bei diesem Autor in der Vaterunser-Bitte um die Vergebung der Schuld. Es ist unmöglich, einander nicht zu vergeben, nicht immer neu die Versöhnung zu suchen, weil eben Kirche von ihrem Wesen her dieses in der Einheit des Dreieinigen geeinte Volk ist. Im Grunde also derselbe Zusammenhang, den unser Text uns vor Augen stellt. Das Bekenntnis zum dreieinigen Gott ist die kostbarste Gemeinsamkeit, die uns in einer gespannten und gespaltenen Christenheit verbindet. Der dreieinige Gott aber ist nicht nur der Grundinhalt unseres gemeinsamen Glaubens und Bekennens, er ist auch – wenn dieses einmal so gesagt werden darf – die „Lebensform“ der Einheit, die wir suchen und die anfanghaft schon zwischen uns lebt und wächst.

Zurückgewendet auf unseren Text: Die Einheit, um die es Paulus geht, ist nicht die einer Summe von solchen, die sich vertragen und miteinander auskommen, jeder das Seine für sich behaltend. Es ist auch nicht eine Einheit, die nur von einem Prinzip her, deduktiv, konstruiert wäre. Es ist die Einheit, die uns in Jesus Christus und seiner unzerreißbaren Einheit mit dem Vater im Geist schon geschenkt ist am Kreuz und in der Auferstehung, die aber als immer neue Beziehung, als immer neues Sichlassen an den andern und Einlassen des andern in sich, als immer neuer Durchgang durch den Nullpunkt des Kreuzes uns in sich hineinnimmt und uns selbst und unsere Beziehungen zueinander neu werden läßt. Nur in einer beständigen „Perichorese“, in einem beständigen Umgeben des andern mit der eigenen Liebe und der eigenen Existenz und in dem ebenso beständigen Hineinnehmen des anderen in die eigene Existenz, in die eigene Liebe, in das eigene Gehen zu Gott, disponieren wir uns für die Gottesgabe der Einheit.

Fassen wir die fünf Momente in einem einzigen Satz zusammen, der den Weg der Christen zur Einheit als geistlichen Weg beschreibt: Der Weg zur Einheit fordert uns auf, nichts anderes als verbindlich und wichtig gelten zu lassen als den Willen Gottes, der uns in seinem Wort offenbart ist und Wort unseres [40] Lebens, unseres Lebens miteinander werden will, indem wir die eine Mitte dieses Wortes, seiner Botschaft, das Ostergeheimnis leben, ständig bereit, uns im Kreuz Christi dem andern zu beugen und zu öffnen, auf daß der Herr in unserer Mitte lebe und so unser Verhältnis geprägt werde von der Liebe des Vaters und des Sohnes im Geist.

Wir können diesen Zusammenhang des Glaubensgehorsams mit dem Wort Gottes, des Wortes Gottes als des Wortes von Kreuz und Auferstehung und als Offenbarung des dreifaltigen Gottes durch Kreuz und Auferstehung auch fassen in einer fünffachen Frage, die sozusagen eine ökumenische Gewissenserforschung bedeutet: Geht es uns wahrhaft um nichts anderes als um Gott und seinen Willen? Leben wir Gottes Wort, so daß es wahrhaft unser Leben wird, Leben, das wir einander mitteilen und schenken? Ergreifen wir die Erlösung durch das Kreuz, indem wir auch das Kreuz annehmen, das der je andere uns ist, uns loslassend, uns nach dem Maß des Gehorsams einsmachend mit dem andern? Suchen wir so aufeinander zuzugehen und so gemeinsam zum Herrn zu gehen, daß er selber als der Auferstandene in unserer Mitte weilen kann?

Diese fünf Fragen entsprechen fünf Momenten, die konsequenterweise in der Fokularspiritualität von ihrem Ansatz als Spiritualität der Einheit her von besonderer Bedeutung sind: Diese hebt an mit dem Glauben an Gott, der die Liebe ist und der als das einzig Maßgebende erwählt wird, so daß sein Wille allein zählt. Das konkrete Leben mit diesem Willen Gottes nährt sich aus dem Wort Gottes, das als „Wort des Lebens“ gelebt, gemeinsam gelebt wird. In der Mitte dieser Botschaft steht, als „Konzentrat“ des ganzen Wortes Gottes, die Botschaft von der Liebe und das Gebot der Liebe, wie der Herr geliebt hat. Diese Liebe begegnet in ihrer höchsten Gestalt am Kreuz, an dem sich der Herr bis in den Tod und in die Gottverlassenheit für uns gegeben hat. Ihn in dieser Gestalt immer und überall suchen, ist der Grundvollzug des Lebens. So aber wird dieses Leben zum Weg für die beständig zu suchende Gegenwart des Auferstandenen in unserer Mitte, und so werden die Beziehungen der Menschen untereinander geprägt von der Einheit und Liebe des dreifaltigen Gottes, gemäß dem Testament Jesu: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast.“ (Joh 17,21) Gott allein suchen – aus seinem Wort leben – das Kreuz zum Grund und Maß unserer Beziehungen zueinander werden lassen – dem Auferstandenen den Raum zwischen uns einräumen – mit unserem Leben einstimmen in das Leben des dreifaltigen Gottes: Dies ist gemeinsames Grundgut der Christenheit, das, miteinander geteilt, uns immer dichter und tiefer zueinander, zu jener Einheit kommen läßt, die der Herr will. Das Leben und Werk von Dr. Kurt Schmidt-Clausen ist ein Hoffnungszeichen, das in diese Richtung weist.