Theologie als Nachfolge

Die Weltsicht Bonaventuras und unsere Weltsicht

Stringent und faszinierend in sich selber, drängen uns Bonaventuras Sicht der Schöpfung und das sie inspirierende Seinsverständnis doch die Frage auf: Wie steht sein Weltverständnis zu dem unseren? Ist seine Konzeption für uns mehr als eine interessante [116] Perspektive in einen anderen, für uns nicht mehr im Ernst erreichbaren geschichtlichen Raum? In einem Punkt zumindest berühren sich die Horizonte: Bonaventura – das zeigte unsere Analyse der Gliederung des Itinerarium – sieht die Welt nicht als einen bloßen Inbegriff geordneter Objektivität, welcher der Mensch als Beschauer gegenübersteht oder in die er als in eine äußere Gesetzmäßigkeit eingebunden ist; Welt selbst ist Beziehungsraum, in dem das Zusammenspiel der Dinge und des Menschen sich begibt. Welt ist, was sie für den Menschen und im Menschen ist; die Rezeption durch den Menschen und der Entwurf durch den Menschen gehören zu dem, was die Welt selber ist, hinzu. Dennoch bleibt in mehrfacher Hinsicht der Eindruck des Befremdlichen zurück. Der Hauptgrund: Unsere Welt ist immer mehr zur „gemachten“ Welt, zur bloß entworfenen Welt geworden, in welcher das nicht vom Menschen Produzierte nur Material fürs Produzieren und Bewährungsfeld für die vom Menschen entworfene Theorie ist – und das, was sich solcher Theorie oder der aus ihr resultierenden praktisch-technischen Bewältigung entzieht, ist ein Widerständiges, das es in gestaltbare Materie zu verwandeln gilt. Die Relation zwischen Welt und Mensch, bei Bonaventura gegenseitig, hat sich mehr und mehr auf die Seite des Menschen als aktiven Partes allein verlagert. In der Neuzeit wird die Welt zur Tat menschlicher Freiheit, aber gerade dadurch zum geschlossenen System. Dann freilich ist der Gedanke, daß die Dinge von sich her „Gott“ rufen, ein nicht mehr nachvollziehbarer, der Weg durch die Welt zu Gott ein ungangbarer geworden. Das meint nicht eine prinzipielle Unmöglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis, wohl aber das Wegrücken ihrer Grundlagen aus dem Erfahrungsbereich des Menschen. Die Schwierigkeit, durch die Welt zu Gott zu finden, die Schwierigkeit also, die Welt gerade so zu verstehen, wie Bonaventura es vorschlägt, gründet in zwei Umständen. Einmal in der Geschlossenheit der Welt, deren zwei Spielarten heißen: alles ist, was es ist, nur vom Menschen her, aus der konstitutiven Kraft seiner Hinsicht und in der produktiven Kraft seiner Gestaltung, bzw. umgekehrt: alles ist verspannt in einem objekti- [117] ven Kausalnexus, eines kommt vom anderen her, und es ist entweder nicht möglich oder nicht nötig, hinter diese endliche Ursachenreihe nochmals zurückzufragen. Beide Spielarten laufen im Grunde auf dasselbe hinaus, die Geschlossenheit der Objektivität und die Geschlossenheit der Subjektivität gehen letztlich aufs Modell der sich selbst setzenden Subjektivität zurück, sei es die des Menschen, sei es die des Weltsubjekts. Zum anderen zerfließen in einer so konstruierten Welt die Eigenschaften der Dinge, weil eben das zergeht, was die Dinge zu eigen haben. Das qualitative Moment löst sich auf in die Errechenbarkeit aus dem alles setzenden und erklärenden Prinzip; damit wird das Qualitative ersetzt durch das Quantitative. So aber findet sich nichts mehr in der Welt, woran sich das unbedingte Andere ihrer selbst repräsentieren, bezeugen könnte. Doch wie steht dazu nun die Aussage Bonaventuras, daß die Zahl die höchste Spur Gottes in der Schöpfung sei? Mögliche Nähe zu unserer Welterfahrung verbindet sich hier mit dem schärfsten Gegensatz: Zahl ist für Bonaventura gerade eine qualitative, nicht eine neutrale Dimension.1

So scharf die gezeichneten Züge ins wissenschaftliche und praktische Weltbewußtsein heute einschneiden, so unübersehbar werden sie doch von gegenläufigen Zügen kontrastiert, die zunehmend das menschliche Selbst- und Weltverhältnis bestimmen. Einmal ist der Mensch wieder auf der Suche nach verlorenen Ursprüngen, nach dem, was sich als nicht nur von ihm gemacht ausweist; er bedarf gerade dessen, worüber er nicht verfügen kann, um für sich selber nicht unwirklich zu werden und die Welt in dieselbe Unwirklichkeit seiner selbst zu verlieren. Zum anderen wird ihm die total durchsichtige Welt zur total verwirrenden Welt; die Selbstpotenzierung seines Untersuchens und Herstellens zerspaltet die Welt in unzählige Sektoren und Schichten, löst sie auf ins Nebeneinander unzähliger Sonderwelten. Was fehlt, ist die Orientierung; was fehlt, ist der Weg, der das Postulat und die Erfahrung des Horizontes der einen Welt einlöst im konkreten Umgang mit der Welt. Der Mensch sucht seinen Weg durch die selbstgemachte Welt, und er sucht ihn zugleich als Weg zu einer Welt, die nicht nur er gemacht hat. [118] Hier kann uns die Begegnung mit Bonaventura weiterhelfen. Wir werden nicht unvermittelt seine Denkweise zu der unseren machen können, wohl aber können wir mit seinen Augen aus unserer heutigen Perspektive die Welt neu sehen lernen. Er gibt uns zwei Hinweise zumal. Der eine: das eigentlich Bleibende enthüllt sich ihm als Proportion, als Struktur; die Eigenschaft, in welcher zunächst Gott berührbar wird in der Schöpfung, ist für ihn die Beziehentlichkeit, die Polarität, das Aufeinanderzu, ohne das es Welt und Mensch nicht gibt. Wird nicht auch für uns immer deutlicher, daß wir selber und die Welt nur dann der Auflösung der Welt und der Entfremdung des Menschen entrinnen, wenn wir die unverfügbare Polarität, die gegenseitige Rezeptivität und Ursprünglichkeit von Mensch und Welt wahren? Ist solche Unzerstörbarkeit nicht ein unabweisbares Postulat, in dem sich gleich unabweisbar ontologische Herkunft bekundet? Der zweite Hinweis: die Reduktion, welche die Welt in den Menschen und den Menschen in die Welt hinein auflöst, ist nur vermieden, die Unableitbarkeit der beiden Pole in ihrer wechselseitigen Beziehung ist nur gewährleistet durch den dritten Pol, der den Menschen und die Welt einander und der sich zugleich beiden als Ursprung, Mitte und Ziel zuschickt: Gott. Die Sicht der Welt von Gott her, der Weg in die Welt von Gott her und der Weg durch die Welt zu Gott sind nicht Nivellierung der Autonomie des Menschen und der Welt, sondern gerade die Freisetzung von Welt und Mensch an sich und aneinander. Glaube, der sich der Welt zuwendet, ist nicht integralistisch, sondern integrierend. In Bonaventuras Welt- und Seinsverständnis begegnen wir so, zumindest im Ansatz, einer Alternative zu einem bloß monistischen und reduktiven Verständnis, einer Alternative des weiteren zu einem bloß objektiv-hierarchischen, aber auch zu einem abstrakt-dialektischen, das Welt und Mensch im Blick auf Gott auseinanderreißt und so den Menschen selber in seine gott-lose Weltlichkeit und seinen existentiellen Glauben auseinanderreißt. Bonaventuras Theologie der Welt bewährt ihre integrative Kraft.


  1. Vgl. B. Weite, Die Zahl als göttliche Spur, in: ders., Auf der Spur des Ewigen, Freiburg i.Br. 1965, 49–61. ↩︎