Vorspiel zur Theologie

Die Zeit Jesu

a) Jesus der absolut zeitliche Mensch

Sprächen wir nur von der Umkehr und Erfüllung der menschlichen Anläufe in Jesu Botschaft von der Herrschaft Gottes, so träte das unverwechselbar Christliche noch nicht in Sicht. Wir müssen den Weg der Jünger mitgehen, die sich auf Jesus einließen, die seiner Botschaft glaubten, die in die Umkehr allen Verhaltens und aller Maßstäbe eintraten – und die auf diesem Weg doch überrascht, erschüttert und enttäuscht wurden.

Wie Gottes Herrschaft in Jesus anbrach, dies war das schlechterdings Unerwartbare, war der Strich durch alles menschliche Rechnen. Der das ewige Leben verkündete, starb den bittersten Tod. Der die Vergebung der Sünden ansagte, wurde zum Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt, zum Ecce homo als Inbild aller Schwäche, Verlorenheit und Schuld. Der die Gemeinschaft mit dem allein Heiligen und die Gemeinschaft der Heiligen eröff-[139]nete, endete in der Verlassenheit von den Seinen und in der äußersten Gottverlassenheit.

Die Mauer zwischen dem Spieler Mensch und dem heimlichen Mitspieler Gott, die eingerissen galt im Kommen Gottes, im neuen Spiel, das er anstieß, scheint sich undurchdringlicher denn je im Schicksal Jesu aufzurichten. Die Zeit, die in der neuen Ordnung des Evangeliums nicht mehr das Stigma der Unsicherheit und Ohnmacht trägt, sondern die grenzenlose Gabe des nahen Gottes zu sein versprach, fällt in der Zeit Jesu selbst zurück in die endlichste Endlichkeit. Wir dürfen Jesus gar den absolut zeitlichen Menschen nennen. Denn ihm entzog sich im Tod nicht nur die Zeit, sondern die Quelle der Zeit, der Vater, entzog sich ihm. Das letzte und äußerste Spiel hatte Jesus ohne den Mitspieler, ohne den Vater zu bestehen.

Aber kann, ja muß nicht im eigenen Licht des Evangeliums dieser selbe Sachverhalt auch genau umgekehrt gelesen werden? Herrschaft Gottes heißt für den Menschen, daß er total umkehren, sich seine Erwartungen, seine Rechte, seine Möglichkeiten total aus der Hand nehmen lassen, sich grenzenlos und bedingungslos auf Gott allein verlassen, ihm allein die Herrschaft einräumen muß. Und im Blick auf Gott heißt Herrschaft Gottes, daß er, nur er der Anfangende, der vom Nullpunkt unseres Nichts aus Anfangende ist, daß er, nur er der Gebende, der alles voraussetzungslos Gebende, daß er, nur er derjenige ist, an dessen Willen, an dessen unberechenbarem und unhinterfragbarem Willen allein alles liegt.

Dann aber ist das Schicksal Jesu, ist die Zeit Jesu nicht Widerspruch zur Botschaft von der Gottesherrschaft, sondern ihre äußerste Konsequenz. Jesus, der absolut zeitliche Mensch, ist der absolut Zeitliche. Er ist jener, [140] der zugleich die ganze Endlichkeit der Zeit übernimmt und austrägt, so aber diese Endlichkeit in ihr Ende bringt, sie gehorsam weggebend in die Hand dessen, der die radikale Verwandlung vermag. Jesu Leben, Stunde um Stunde allein aus dem Willen des Vaters, sein Nichtwissen und Nichtverfügen, sein Todesgehorsam, seine letzte Hingabe in den Entzug des Vaters hinein, ist äußerste Konsequenz dessen, wer der Mensch ist, und in einem äußerste Konsequenz dessen, wer Gott ist. Nur in dieser Hingabe aber ist Gott alle Zukunft, alle Zeit überlassen, so daß die Zukunft, die Zeit an ihm allein liegt. Daß er sie gibt und wie er sie gibt, zeigt Ostern.

b) Geschichte Jesu als Geschichte Gottes

Die Schrift lehrt uns, die Geschichte Jesu, seine Zeit nicht nur und nicht zuerst vom Menschen her auf Gott hin, sondern auch und zuvor von Gott her auf den Menschen hin zu lesen. Daß Jesus auf den Vater hin lebte, gehorsam bis zum Tod: dies ist die eine Seite. Daß er die Seinen liebte bis zum äußersten und daß diese Liebe heißt: Gott selbst liebt diese Welt bis zum äußersten, Gott gibt seinen eigenen Sohn dahin für sie: das ist die andere Seite. Gott verlangt das Äußerste. Und er hat das Recht dazu, er muß es sogar, weil er nur dort ganz erfüllen kann, wo wir ganz leer sind. Aber Gott geht es nicht darum, unseren Gehorsam oder den Gehorsam Jesu nur auf die Probe zu stellen, nur ins Extrem zu dehnen. Wo Gott etwas zumutet, ist seine Gabe nicht nur die Folge, nein, die Zumutung selbst ist Gabe.

Nirgendwo ist das mehr, nirgendwo fundamentaler [141] der Fall als im Gehorsam Jesu. Der eigentliche Sinn dieses Gehorsams ist es, daß Gott seinen Sohn so weit in unsere Verfassung, unsere Erfahrung, unser Geschick hineingab, daß es nichts, keinen Punkt in der menschlichen Existenz und Geschichte gibt und geben kann, den nicht er in seinem Sohn erreicht, angenommen, liebend eingeholt hätte. Nur so ist Gott wahrhaft alles in allem, nur so gibt es keine Bezirke, die seiner Herrschaft entzogen wären, die eine Herrschaft der Liebe, eine Herrschaft des Sich-Gebens ist. Alles, auch unsere Sünde, auch unsere Ohnmacht, auch unser Tod ist ihm zu eigen. Und dies ist die größere Liebe, daß er das Negative, daß er das Verfallen- und Verdorbensein seines Partners, statt es nur auszumerzen, ausleiden und so in Liebe verwandeln wollte.

Sofern der Tod Jesu Gehorsam ist, sehen wir an ihm, wie groß Gott und wie klein der Mensch ist. Sofern derselbe Tod Jesu Liebe ist, sehen wir, wie weit Gott geht und wieviel der Mensch ihm wert ist, das heißt aber, wie klein Gott werden wollte, um den Menschen groß zu machen.

Die Deutung des Todes Jesu als Liebe hat freilich eine keineswegs selbstverständliche Voraussetzung. Nur dann ist im Geschick Jesu wahrhaft alles Menschliche, sind in ihm alle Menschen von Gott angenommen, wenn dieses Geschick nicht bloß das Geschick eines einzelnen ist, der neben den anderen stände, Einzelfall unter den ungezählten. Die andere Seite desselben: Wenn der Tod Jesu nicht nur Widerfahrnis oder heroische Tat eines ideal gesinnten Menschen, sondern Erweis, wirksames Geschehen der Liebe Gottes zum Menschen ist, dann kann Gott selbst nicht jenseits dieses Schicksals stehen. Schicksal, das er nur einem anderen aufbürdete, wäre [142] nicht die Tat seiner Liebe; nicht er wäre es, der den Menschen bis zum äußersten übernommen hätte.

Die Weise, wie Jesus von Gott spricht, die Weise, wie er mit Vollmacht seinen Willen auslegt und mit Vollmacht handelt, sein Weg als Weg mit dem Vater, vom Vater und zum Vater, und in Übereinstimmung damit die Weise, wie die Zeugen, wie die Gemeinde das Geheimnis Jesu interpretiert – dies alles zeigt uns: Jesus steht nicht draußen, sondern drinnen in Gott. Sein Verhältnis zum Vater ist Gegenübersein und zugleich Innesein im Vater. Sein Kommen ist nicht nur Sendung von Gott, sondern Kommen Gottes. In ihm geschieht wirklich Gottes Gegenwart, mehr noch: Gottes Geschichte in unserer Geschichte. Gott ist in ihm da. Gott ist es, der in ihm unseren Menschenweg zu seinem eigenen macht. Aber auch wir sind in ihm da. Wirkliches Menschsein ist in ihm da, sonst wäre es nicht von Gott angenommenes, in ihn hineingenommenes Schicksal. Wenn aber Gott das Schicksal eines Menschen übernimmt und zu dem seinen macht, dann ist die Möglichkeit erschlossen, daß in dem einen Schicksal alles Menschliche und alle Menschen von innen her angenommen und stellvertretend übernommen sind.

Die Botschaft von der Herrschaft Gottes löst sich hier erst ein. Gott hat nicht nur eine Quelle auf unserem Terrain eröffnet, die uns von seinem Leben selber leben läßt. Er hat so sehr sein Leben gegeben, daß er sich gegeben hat. Er ist wirklich gekommen, er spielt wirklich mit, er spielt auf derselben Ebene, auf dem Spielfeld unseres Daseins, unserer Welt.