Vorspiel zur Theologie

Die Zeit und die Gottesherrschaft

a) Zeit als Krisis der Spiele

Wie das Spiel von Interesse, Dasein und Sprache, so sind auch alle Spiele des Interpretierens und Gestaltens, so ist die Geschichte im ganzen eingespannt zwischen das Ziel, von dem aller Gang der Spiele insgeheim lebt, und der Ohnmacht und Unsicherheit, dieses Ziel je zu erreichen, ja nur auf dem Weg zu ihm zu bleiben. Um ein Beispiel herauszugreifen, das für alle Spiele steht: Abgesehen davon, daß die Zielvorstellung eines vollkommen freien und gerechten Miteinanders aller Menschen in einem idealen Staat inhaltlich je strittig und zweideutig bleibt – erreichte Gestalten auf das Ideal zu sind nicht Stufen zum je Vollkommeneren, sondern sie sind stets gefährdet von der Perversion, vom Zerfall, bleiben hineingehalten in die Unentscheidbarkeit der Zukunft im ganzen.

Weil alle Spiele in der Zeit spielen, fehlt ihnen die [134] vollendete Balance. Der entscheidende Pol des Spannungsfeldes, jener, der uns die Zeit zuspielt, ohne die unserem Spiel der Atem fehlte, ohne die das Spiel einfach aus wäre: dieser Pol steht nicht als Mitspieler auf dem von uns überschaubaren selben Feld. Und so ist das Spiel ungleichgewichtig. Auch wenn wir uns daran gewöhnt haben, daß auf den Abend ein Morgen und auf den Winter ein Frühling folgt, ist dies weniger selbstverständlich, als daß wir sterben und die Zeit mit uns vergeht, mit uns stirbt. Die Zeit insgesamt ist verwahrt in der Macht jenes anderen – nicht nur die Zukunft. Vergangenheit ist vorbei, aber sie bleibt mir auferlegt als meine Herkunft, bestimmt jetzt mein Geschick und ist da als das unabänderlich Gewesene, verwahrt in jener Hoheit, welche Zeit gewährt. Und daß ich jetzt sein kann, heißt auch, daß ich jetzt sein muß. Das Geschenk des Augenblicks ist Herausforderung zur Antwort, die ich je verantworten muß, die ich nie verweigern kann – denn auch Verweigerung wäre Antwort. Die Gabe der Gegenwart trägt so nicht minder als Zukunft und Vergangenheit das Prägemal der Übermacht jenes entzogenen Geheimnisses, aus dem die Zeit im ganzen mir zukommt. Ich spiele mit dem je Mächtigeren hinter der Wand.

Drei Ausflüchte legen sich nah: das trotzige Als-ob, die gewaltsame Behauptung, daß das Spiel gelingen wird, daß die Zukunft und füglich die Geschichte uns gehört; die Resignation, die daraus, daß ich kein gutes Ende machen und erreichen kann, den Schluß zieht, alles sei vergebens, alles münde ins Sinnlose; die heitere Vergeßlichkeit, die es nun einmal auf gut Glück probiert und sich selbst die Hand vor die Augen hält.

[135] b) Erfüllte Zeit – erlöste Spiele

Eine Alternative zu allem dem gibt es. Aber sie ist grundsätzlich anderer Art. Nicht wir machen es anders, sondern der andere, der Entzogene macht es anders. Er tritt aus der Reserve, er durchbricht die Mauer. Davon wollen wir im folgenden handeln. Wir tun es aus der Perspektive des christlichen Glaubens und der Theologie, ohne freilich die dogmatische und exegetische Vermittlung zu leisten. Solche Unmittelbarkeit läßt die Konturen schärfer hervortreten, vermittelt deutlicher den Zusammenhang mit dem philosophischen Vorspiel zur Theologie. Gottes anfänglicher Schritt auf uns zu ist der Bund. Der Bund ist mehr als der Blitz einer einzelnen Theophanie, mehr als das Hie und Da der denkwürdigen Begegnungen des Menschen mit dem Heiligen, die zwar Lichtpunkte am dunklen Firmament zu setzen vermögen, aber keinen Weg hier unten auf der Erde erhellen. Im Bund sagt Gott: Ich werde dasein. Er greift über das Jetzt hinaus und legt die unsichere Bahn des Menschen in den Lichtstrahl seiner Zusage. Der Weg kann wirklich Weg mit ihm und auf ihn zu sein.

Eine zweifache Grenze bleibt trotzdem. Gott selbst steht darüber. Er reicht uns seinen Arm, aber sein Gesicht entzieht sich immer neu. Das Spielfeld ist beleuchtet, er spielt uns zu, wir spielen ihm zu, aber er steht nicht auf diesem Spielfeld, seine Ebene ist eine andere. Die zweite Grenze sind wir selbst. Je mehr er mitspielt, je mehr er Licht gibt, desto höher sind wir eingefordert, desto greller ist unsere eigene Ohnmacht angestrahlt. Im Bund sind wir als Partner angenommen, doch die Ungleichheit der Partner bleibt die belastende und gefährdende Hypothek. Drängt solcher Bund nicht auf mehr? Drängt [136] er nicht danach, daß der ganze Gott sich hineingibt ins Spiel und so uns gibt, wir selber zu sein und dennoch ihm gewachsen zu sein? Zumindest im nachhinein stellt sich diese Frage.

Im nachhinein des Neuen, das Jesus ansagt und bringt. In ihm ist die Zeit erfüllt, die Herrschaft Gottes bricht herein. Die Differenz zwischen Geschichtszeit und ausstehender Erfüllung wird von Gott aufgehoben, indem er einbricht in diese Geschichtszeit, sie zum Raum seines Lebens, seiner Gemeinschaft mit uns macht. Die grenzenlose, nie versiegende Quelle entspringt auf unserem Gelände. Gottes Zukunft steht uns offen, wird unsere Zukunft. Wir sind nicht an unser Ende gebannt, sondern haben teil an Gottes je neuem Anfang.

Doch nicht nur die Zukunftssorgen sind uns abgenommen, die ganze Zeit wird Gottes Zeit. Unsere Zukunft heißt ewiges Leben. Unsere Herkunft ist nicht mehr Geschick und Gericht, sondern zeitigt sich neu aus Gott, in der Vergebung der Sünden. Und unsere Gegenwart? Die isolierende Wand ist eingerissen, hinter welcher wir alleinstehen, nur mit unserer Kraft. Wir sind hineingenommen in die Gemeinschaft mit Gott. Die Welt selbst wird zur umfassenden Gemeinschaft, zur Gemeinschaft mit dem allein Heiligen und zur Gemeinschaft der Heiligen.

Dieses Angebot bleibt Angebot. Und deswegen ist es auch Gericht. Es ist nicht die automatische Beseligung des Menschen, von oben dekretiert oder von unten als Endstadium der Evolution hervorgebracht. Es ist Begegnung. Die Weise, wie die Herrschaft Gottes herankommt, ist nicht die der Gewalt, die uns überrollt, sondern die der Macht, der Vollmacht, die unsere Freiheit will. Unsere Kraft ist nicht alleingelassen, aber unser [137] Wille ist uns nicht genommen. Der Indikativ der Gabe verbindet sich mit dem Imperativ: Kehret um und glaubet der frohen Botschaft! Nur wer umkehrt, nur wer es sich gefallen läßt, seine Zeit nicht mehr von sich her, vom eigenen Planen und Sorgen her zu haben, sondern allein aus Gottes Gabe, wird durch diese Gabe befreit. Der andere schließt sich aus, dem anderen wird das Angebot eben zum Gericht. Wer aber umkehrt und eintritt, wer es sich sagen läßt, daß er wie ein Kind sein darf, das darauf vertraut: Mir wird alles geschenkt!, wie Vogel und Lilie sein darf, die sich nähren und kleiden lassen, der erfährt: Alle Spiele des Lebens sind umgekehrt, sind erfüllt.

Nicht ich bin es mehr, der sich im gespannten Interesse auszustrecken hat nach dem je größeren Guten. Der allein Gute schenkt sich mir und braucht von mir nur die Leere, die Gelassenheit, mich beschenken zu lassen, mich mitnehmen zu lassen in seine Bewegung, ins Weiterschenken. Nicht aus der Herkunft meines Ich-bin, aus dem Stolz meiner Leistung und der Scham meines Versagens geht mein Dasein auf, sondern aus dem, der mir sagt: Ich bin für dich da, und der somit zum Dasein für andere ermächtigt. Nicht ich muß mich verständlich machen und schaffe es doch immer wieder nicht, weil mein Wort mich unterbietet und den anderen nicht zuinnerst erreicht. Sondern ich bin bereits erreicht und verstanden, und alle sind erreicht und verstanden von dem, der uns innerlicher ist als unser Innerstes und gerade so unser gemeinsames bergendes Zwischen. Nicht ich bin der Spieler, der mit seinem ganzen Einsatz zahlt, ohne wissen und machen zu können, daß der große Andere mitspielt, der allein das Gelingen schenken kann. Er selbst fängt an mit dem Spiel, seine Gunst und Gnade [138] stehen am Anfang – und er wartet darauf, daß wir mitspielen, daß wir einstimmen, damit er uns beschenken kann.

Solche erfüllende Umkehrung der Grundspiele ist nicht nur die Umkehrung der Struktur, die sich uns anfänglich zeigte. Sie leitete uns schon von Anfang an. Im Licht der Erfüllung und nichtsdestoweniger unmittelbar vom Phänomen her suchten wir die Grundspiele zu lesen, wie wir jetzt von ihnen her die Botschaft des Evangeliums zu lesen versuchen.