Glauben – wie geht das?
Die Zusammenfassung der Botschaft Jesu
Wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt begegnet uns Jesu Botschaft vom nahenden Gottesreich in dem Satz, den Markus formelhaft der Entfaltung des Wirkens und der Predigt Jesu vorausschickt: „Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus nach Galiläa und verkündete das Evangelium Gottes: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe. Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14–15).
Blicken wir einen Augenblick auf die Struktur des entscheidenden Satzes. Er besteht aus zwei Doppelgliedern, die in sich je mit einem „und“ verbunden sind. Das erste Doppelglied enthält eine doppelte Ansage, das zweite eine doppelte Aufforderung. Die Ansage handelt von der Zeit und von Gott. Beide haben ihre bisherige Position verändert, wir können sagen: sie haben sich „umgekehrt“. Die Zeit verläuft nicht mehr so, daß jeder einzelne Zeitpunkt im Grunde gleich weit von der Erfüllung dessen entfernt wäre, worum es in der Zeit geht. Die Zeit beschreibt also nicht mehr einen Kreis, dessen Linie zu dem erfüllenden, sinngebenden Mittelpunkt in einer immer gleichen Distanz bliebe, sondern diese Linie läuft in den Mittelpunkt des Sinngebenden, Erfüllenden hinein, ja ist dort eingetroffen. Und Gott bleibt nicht in einer gleichbleibenden Distanz zu uns, die wir in unserer Zeit leben und handeln und unsere Erfahrungen machen, er bleibt nicht über uns und darin uns vom Leibe, sondern die Tatsache, daß er Herr und König ist, seine Königsherrschaft (basileia) rückt heran, er selbst als der Herr, er selbst als der göttliche Gott rückt heran an unser Leben. Die Zeit läuft ein zu ihrer Mitte, die Mitte bricht aus und stürzt auf uns zu.
Daraus wird nun im zweiten Doppelglied die Folgerung gezogen für unser Verhalten: Wir sollen umkehren, sollen den Gang unseres Lebens neu orientieren, sollen uns auf das neue Verhältnis Gottes zu [24] uns und darin unserer eigenen Zeit zu uns umstellen. Umstellen woraufhin? Wir sollen glauben, will sagen: uns nicht in uns selbst, sondern in etwas anderem festmachen, in etwas anderem unseren Schwerpunkt haben. Worin? In dieser frohen Botschaft, in dieser Ansage des nahenden Gottes. Nicht mehr von uns her leben, nicht mehr aus unserer Distanz zu diesem Gott über uns leben, sondern uns auf sein Nahen, auf seine Nähe, auf ihn, der sich uns naht, stützen und verlassen, von ihm her leben.
Wie geht Zeit?
Umkehren heißt unser Leben umkehren, unsere Zeit umkehren, als Antwort auf Gott, der sich uns zukehrt und uns die Zeit neu, anders schenkt. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst einmal unsere Zeit verstehen, die Weise verstehen, wie sie normalerweise läuft.
Zeit läuft eben, indem sie vergeht. Sie ist immer nur da in einem einzigen Augenblick, und wir leben je nur jetzt. Doch das, was war, verarbeiten wir im jeweils jetzigen Augenblick auf das hin, was kommt. Wir bereiten andauernd unsere Zukunft vor. Wir tun es, weil wir es wollen, aber wir wollen es nicht beliebig, sondern dieses Wollen ist der unausweichliche Rhythmus unseres Lebens. Schon Stoffwechsel, Atem, Herzschlag gehen so – und erst recht die Regungen und Bewegungen unseres seelischen und geistigen Lebens.
Hier können wir uns zwar anscheinend anders verhalten, können ein Nein sagen zur Zukunft, können uns festklammern an dem, was war, können uns darauf beschränken, nur den Augenblick nutzen zu wollen, ohne Rücksicht auf das, was nachher kommt. Aber wir wollen uns eben in dem festklammern und somit das festmachen, was war oder jetzt ist, wir wollen soviel wie möglich im Vergehen davon hinüberziehen in den nächsten Augenblick, also in die Zukunft. Auch noch die Formen der Selbstzerstörung bilden keine Ausnahme. Sie sind ein Verhältnis zur Zukunft, sie sagen: lieber das Nichtsein als Zukunft als diese Zukunft, die ich zu erwarten habe! Und wenn ich einfach das Morgen verdränge und nicht daran denken mag, wie es weitergeht, dann geschieht dies in der Angst davor, [25] der nächste Augenblick könne nicht oder nicht so kommen, wie ich ihn will, und so probiere ich, den jetzigen Augenblick in den nächsten hineinzuziehen und somit vom übernächsten zu entlasten. Oder ich habe jene – vielleicht unreflektierte – Zuversicht: Wenn es bis jetzt gut ging, wird es auch weiter so gehen! Und so lasse ich die Zukunft kommen – also wiederum ein Verhältnis zur Zukunft.
Das Verhältnis zur Zukunft, zu unserer Zukunft und der unserer Nächsten, ist der Ernst des Lebens. Und dieses Verhältnis zur Zukunft namens Zeit ist zugleich ein Spiel. Denn wir setzen etwas, ja alles ein, ohne den Ausgang zu wissen. Selbst wenn wir uns noch so gut absichern und eindecken und vorrichten für morgen, eines wissen wir dabei nie: ob das Morgen, ob die Zukunft stattfindet. Wir können es gar nicht wissen, denn wir leben eben jetzt. Die Zeit muß kommen, wir können sie nicht in den Kühlschrank legen, einfrieren und bei Bedarf auftauen. Sie muß kommen, ganz frisch, ganz neu, jeden Augenblick. Und wenn der Augenblick nicht da ist, noch nicht da, dann ist er eben entzogen, und es steht nicht in unserer Macht, ja es steht in niemandes Macht, ihn herbeizuholen, ihn zu gewährleisten. Die Zukunft findet zwar im Jetzt statt, prägt zwar das Jetzt – aber ob sie nachher stattfinden wird, ob sie Gegenwart sein wird? Unser ganzes Leben geht von der Hypothese aus, daß Zukunft stattfindet.
Spiel mit ganzem Einsatz und absolut unsicherem Ausgang. Die unzähligen Versuche des Menschen, sich des Sinnes seines Daseins, sich des Sinnes der Geschichte zu versichern, wurzeln in dieser elementaren Not, die der Mensch nicht zu beseitigen vermag. Auch die Religion hat hier wenigstens eine ihrer Wurzeln.
Gott und Zeit
Steht die Zukunft wirklich in niemandes Macht? Wir entwerfen sie, und sie wird uns zugeworfen, aber immer nur in der winzigen Rate des je gegenwärtigen Augenblicks. Dieser Augenblick ist verliehene Macht. Und daß wir planen und entwerfen können, ja müssen, ist verliehene Ohnmacht, die durch die Raten des je gegenwärtigen [26] Augenblicks über sich emporwächst zu so etwas wie Erwartung und Hoffnung. Unsere Macht und unsere Ohnmacht sind uns also verliehen, und mit unserem Hoffen und Gestalten stehen wir in einer Partnerschaft, in einer demütigen und ohnmächtigen Partnerschaft zur Zeit und Zukunft verleihenden Macht. Diese Macht erscheint nicht im Horizont des vielen, das wir in den Blick bekommen. Diese Quelle entspringt nicht auf dem Terrain des von uns bebaubaren Landes. Tropfen um Tropfen fließt uns aus dieser Quelle von jenseits unseres Horizontes zu.
Nun, es ist immerhin denkwürdig, daß bis zum Rand der Neuzeit es keine Kultur gegeben hat, in der die Menschen nicht versuchten und glaubten, mit dieser Macht und Quelle in Kontakt zu treten. Vom magischen Bemühen, den Gott gnädig zu stimmen, bis zur sich selbst überlassenden, alles annehmenden Hingabe an sein Geheimnis spielen die Gangarten menschlicher Religiosität. Unter dem methodischen Ansatz, nur das gelten lassen zu wollen, was sich innerhalb des Horizontes unserer Nachprüfung ausweist, muß sich das Verhältnis zu Gott zersetzen – dies liegt auf der Hand. Nachprüfung erfordert Wiederholung, Wiederholung aber gibt es nicht, wo es um die Quelle des einmaligen Jetzt, wo es um das Zukommen dieses Jetzt aus der entzogenen Zukunft geht. Es ist keineswegs sinnlos, über unser Leben nachzudenken und zu erkennen, daß es auf eine ihm je entzogene Zukunft zuläuft und daß dies nicht von ihm und nicht von nichts, sondern von einer der Zukunft mächtigen Macht herrührt. Aber diese Erkenntnis ist anderer Art und liegt auf einem anderen Feld als alles, was eben mit Experiment und Nachprüfung und Kontrolle zu tun hat.
In einer Kultur, die auf derlei aufbaut, ist die Macht, der die Zukunft und die Zeit entspringen, systemimmanent „ohnmächtig“. Der Gott der Neuzeit wurde zu einem Gott, der nur noch das System garantierte, zum Gott außerhalb des Horizontes und vor der Klammer, in welcher wir mit unseren Hypothesen arbeiten. Es ist begreiflich, wieso im Lauf der neuzeitlichen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte ein solcher Gott weggearbeitet, ausgestoßen wurde. Allerdings ist es auch begreiflich, warum eines nicht wegge- [27] arbeitet werden konnte: die Angst. Alle Sicherheiten, sie mögen sich noch so dicht miteinander verklammern, bilden insgesamt nur eine freischwebende Insel, die sich nicht selber hält und die den außer Sichtweite hält, der sie hält.
Gottesherrschaft: Umkehrung Gottes und der Zeit
Menschliche Religion schwingt zwischen ohnmächtiger Angst und elementarem Urvertrauen dem gegenüber, der sich in der Gabe der Zeit als übermächtig und gnädig, als unheimlich groß und heimlich nahe bezeugt. Diese Religion läuft freilich Gefahr, Gott nur als den Lieferanten und Garanten jenes Zeitvorrates zu betrachten, den wir für die Stabilisierung der eigenen Pläne und Erwartungen brauchen. Und gerade dann kann sich die Religion nicht wehren gegen den Verdacht des Menschen, er habe sie sich nur als schlechten Trost, als verbergende Kulisse vor den Abgrund seiner Ohnmacht hinprojiziert.
Der Gott Israels, der Gott ohne Bild, der Gott mit dem Namen Jahwe, „Ich bin der Ich-bin-da“, anders gewendet: der „Ich werde sein, der ich sein werde!“, er ist nicht einfach dieser Gott der Religionen. Es geht hier nicht um die religions- und geistesgeschichtliche Erklärung seines Namens und des israelischen Bilderverbots, sondern es geht um den Stellenwert des im Verlauf der Geschichte Israels zu seiner Höhe und Klarheit heraufwachsenden Jahweglaubens. Israel klammert sich gerade nicht an eine einzelne Erfahrung des Eindrucks göttlicher Übermacht, die es dingfest machen, im Bild verfassen könnte. Das konkrete, geschichtliche Handeln dieses Gottes am Volk ist das Handeln dessen, der Himmel und Erde geschaffen hat. Es ist das Handeln dessen, der je größer ist als unser Wollen und Planen und der seine Sicherheit gibt allein als eine Verheißung, die sich einlöst im Weiterwandern, im unabsehbaren Weg mit diesem Gott.
Er ist der Gott des Weges. Der Weg ist Weg auf sein Wort hin, Weg, den wir nicht in der Kraft unserer eigenen Wünsche und Pläne vermögen, sondern allein im Hinhören auf sein Wort, im Achtha- [28] ben darauf, wo und wie und woraufhin er sein Dasein, seine Treue, seine Nähe uns bezeugt. Gott wird größer, der Mensch ohnmächtiger, weil nicht mehr er der Inhaber seiner Planungen, seiner eigenen Zukunftskonzepte ist. Und doch wird der Mensch zugleich größer, weil er eben Partner Gottes ist, Anwalt eines Weges Gottes in der Welt, der nicht mehr nur Weg des Menschen zu Gott, sondern Weg an der Hand und im Wort Gottes ist.
Wenn Jesus ansagt: „Die Zeit ist erfüllt!“, dann heißt dies eben, dieser Gott enthüllt seinen Plan. Gott selber erweist offenbar, daß er Gott ist. Er nimmt sich der „Armen“ an, die auf seine Hand und sein Wort geachtet haben, über alles Verlachtwerden und alle Enttäuschung hinweg. Gott macht Geschichte in unserer Geschichte, und die Menschen werden es sehen. Darauf deuten die Heilszeichen hin, die Jesus setzt, die Taten, die es beglaubigen sollen, daß Gott hier selber am Werk ist.
Also einfach eine neue Stufe innerhalb der Geschichte Israels? Mehr als nur das. Mehr nicht nur deshalb, weil Israel insgesamt mit der Botschaft Jesu nicht unmittelbar und sofort „mitspielt“, so daß Raum für die Völker entsteht, für die Menschheit, die nun Partner des Heilshandelns Gottes wird. Mehr als eine Epoche in der Geschichte Israels ist die in Jesus erfüllte Zeit der von ihm angesagten Gottesherrschaft, weil hier mit aller Menschenzeit und aller Menschenerwartung und allem Menschenglauben an Gott Neues, Umstürzendes, Endgültiges geschieht.
Gott hält seine Hand nicht mehr hinter dem Horizont verborgen, läßt nicht mehr aus seiner entzogenen Quelle die Zeit hineinrinnen in unseren Lebensraum; er reicht auch nicht nur hin und wieder deutend und gewährend mit seiner Hand in diesen Horizont hinein und zieht sie dann wiederum zurück. Er selbst bricht auf, er selbst gibt sich hinein in unser Leben, er selbst läßt die Quelle unserer Zukunft entspringen auf dem Gelände unseres Lebens. Er läßt sich ein mit uns, wird radikal der Gott mit uns und Gott für uns, seine Herrschaft bricht an. Die Sonne strahlt nicht mehr von jenseits des Horizontes einige Sterne an, die von ihr Zeugnis geben, sondern sie kommt über den Horizont herauf, sie steigt auf und will Tag wer- [29] den lassen. Wir sollen im Licht Gottes, im gegenwärtigen Licht Gottes gehen und leben dürfen. „Nahegekommen ist die Herrschaft Gottes!“, damit will Jesus uns sagen, daß Gott seine Position zu unserem Leben grundsätzlich verschiebt, daß er in dieses Leben einbricht, daß die Zukunft von ihm her übergeht in bleibende, durch keine Angst und Unsicherheiten mehr in Frage zu stellende Gegenwart. Die Quelle der Zukunft wird uns gegenwärtig, Gott steigt herauf von der Peripherie ins Zentrum unseres Lebens.
Von Gott her leben
Von der Herrschaft Gottes, von seiner Gegenwart, vom Anbruch seiner unmittelbaren Nähe zu uns, von der Verwandlung unserer Erwartung ins Ereignis der Erfüllung zu sprechen, nimmt immer wieder den Atem. Ist das wirklich geschehen? Hat sich Jesu Wort eingelöst?
Dieses Erschrecken, diese Unsicherheit sind nicht erst von heute. Wir wissen vom Streit der Jünger um die ersten Plätze (vgl. Mk 10,35–45), wissen von der Erwartung des nachfolgenden Petrus (Mk 10,28) und von seinem Unverständnis gegenüber Jesu „anderem Weg“ (vgl. Mk 8,32f.), wissen schließlich von der Frage der Jünger vor Christi Himmelfahrt, wann Jesus das Reich Israel wieder aufrichte (Apg 1, 6f.). Die Evangelien selbst berichten den schmerzlichen Vorgang der Klärung von Vorstellungen und Erwartungen, die sich, nur zu naheliegend, einer Botschaft wie der vom anbrechenden Gottesreich anheften wollen.
Die Evangelien stellen dem aber etwas anderes voran. Der Prozeß, in dem falsche Konsequenzen aus der Ansage der Nähe Gottes und seines Reiches ausgeschieden werden, ist ein Weg des Glaubens, ja ein Weg im Glauben. Der Glaube selbst setzt vorher, setzt als unmittelbare Antwort auf die Botschaft von der Gottesherrschaft an. „Kehret um und glaubet an das Evangelium!“, dies duldet keinen Aufschub. Mögen wir unsere verkehrten Meinungen und Bilder und Hoffnungen mitbringen, der Weg, der neue Weg beginnt unverzüglich, wenn die Kunde davon eintrifft, daß Gottes Herrschaft nahegerückt ist.
[30] Aufs erste mag es paradox erscheinen, daß ausgerechnet dort eine Entscheidung, ein Einsatz, ein Weg vom Menschen gefordert werden, wo doch alles allein an Gott liegt. In der Tat, der Mensch soll nun seine Sorge verkaufen, seine Angst weggeben; der Glaube an den Einbruch der Zukunft Gottes verlangt und gewährt, wie die Lilie auf dem Feld und der Vogel in der Luft im Heute Gottes zu leben, der alle Zukunft ist und trägt (Mt 6,25ff.). Doch solche Sorglosigkeit ist keine Untätigkeit, im Gegenteil. Ihr entspricht die absolute Sorge um die Herrschaft Gottes, die es zuerst zu suchen gilt – und dann wird uns alles andere nachgeworfen (vgl. Mt 6,33; Lk 12,31). Das allein wird der Göttlichkeit Gottes gerecht. Wo er kommt und handelt, da ruft er den Menschen, da ruft er die Freiheit heraus. Gottes Handeln und Kommen können nur ankommen, wo der Mensch selber aufbricht, wo er selber den ersten Schritt auf Gott zu tut.
Deswegen ist die Ansage im ersten Doppelglied unseres Verses (Mk 1,15) in einer inneren, „göttlichen“ Konsequenz mit dem Appell des zweiten Doppelgliedes verbunden: Wenn Gott nun ganz und gar damit ernst macht, daß er Gott ist, daß alles allein an ihm liegt, dann, gerade dann liegt alles auch an uns.
Aber was liegt da an uns, was ist die Tat unserer Freiheit, die dem Kommen der Gottesherrschaft entspricht? Wie gehen Umkehr und Glauben? Solange Gott Peripherie war, jenseits des Horizontes, war es unser Teil, von uns auszugehen, ihn anzuvisieren, die Perspektive auf ihn offen zu halten. Leben war Ansatz beim Menschen, Gott lag in der Verlängerung der Zielrichtung, war der äußerste Punkt unserer Erwartung. Nun aber ist Gott von der Peripherie in die Mitte aufgebrochen, nun hat er sich ins Zentrum unseres Lebens erhoben. Und deswegen ist es jetzt unser Teil, von ihm auszugehen, von ihm her anzusetzen. Denk nicht mehr von dir her, plane nicht mehr von dir her, baue Gott nicht mehr ein in deine Pläne, sondern fang an bei ihm, lebe von ihm her, laß ihm dein erstes Wort, bemiß an ihm dein Erwarten, Denken und Tun! „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt!“ (Mk 10,28).
In der Tat, radikale Umkehr. Leben gegen die „normale“ Rich- [31] tung unseres Lebens, gegen die Richtung eines bloßen Entwerfens und Sorgens, eines Selbertuns, das sich durch Gottes Tun ergänzen läßt.
Gott, nicht mehr Horizont unseres Lebens, sondern Zentrum unseres Lebens, das bedeutet Abschied von uns selbst, Abschied von einem bloß anthropologischen Standpunkt unseres Handelns und auch unseres Denkens und Glaubens. Dies steht keineswegs im Widerspruch dazu, daß wir – wie es Jesus selbst getan hat und wie es auch die Predigt der Apostel zeigt, etwa die Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 7,22–31) – immer wieder dort im Dialog und Zeugnis einsetzen, wo im Menschen Sehnsucht nach Gott, Offenheit für Gott, verborgene Hinordnung auf Gott schon lebt. Es kann nicht anders sein, wenn Gott einbricht in unser Leben, wenn er unsere Sehnsucht nach Zukunft und Erfüllung mit sich selbst erfüllt: Wir sind befreit zu uns selbst, „identifiziert“ mit uns selbst, beschenkt mit uns selbst. Aber wir entdecken dieses Befreitsein, Beschenktsein, Identischsein im Abschied von uns, im Ansatz dort, wo Gott ansetzt, im Leben von ihm her.
Negativ heißt das: Unser „Ja, aber!“ muß fallen, unsere Berufung auf die eigenen schlechten Erfahrungen hat kein Recht mehr, unser Verliebtsein in eigene Probleme und Fragestellungen. Sein Wort hat unbedingte „Vorfahrt“, es ist der Grund, auf dem wir stehen, die Warte, von der wir uns selbst und die Welt sehen. Da gibt es keine fließenden Übergänge, sondern nur den Sprung. Dieser Sprung kann behutsam vorbereitet werden, dieser Sprung kann leise und unauffällig geschehen, aber er ist durch nichts zu umgehen. Neuer Anfang muß stattfinden, sonst fängt Christsein nicht an, sonst geht Glaube nicht. Glauben heißt so leben, daß dieses Leben keinen Sinn hätte, wenn es Gott nicht gäbe, wenn Gott uns nicht den neuen Anfang schenkte. Nur von solchem neuen Anfang her kann auch der „anthropologische Standpunkt“ wieder eingeholt, kann entdeckt werden: Ja, so ist der Mensch, so ist die Welt von ihrem Ursprung und Anfang her.
Die Botschaft von der Gottesherrschaft ist Botschaft von der „Krisis“, von Gericht und Entscheidung – und nur wer sich dem [32] ausliefert, wird darin die „Charis“, die Gnade, das Heil, die frohe Botschaft entdecken. Glauben geht nur, indem wir tun, was nicht geht, sondern was er in uns anfangen und vollenden muß. Doch gerade so sind wir größer als wir selbst, und dies ist doch die Identität des Menschen: größer zu sein als er selbst.