Fastenhirtenbrief 1994

Dimensionen des Volkes Gottes

Wenn ich nun in einem vierten, wiederum knappen Teil frage, welche Dimensionen in diesem Volk Gottes drinstecken, dann komme ich zu zwei möglichen Antworten. Beide haben eine große Bedeutung innerhalb dessen, was wir die Communio-Ekklesiologie nennen. Communio-Ekklesiologie ist jene Sicht der Kirche, die im Zweiten Vatikanum grundgelegt ist. Sie kommt in der großartigen Schlußrelation der Bischofssynode 1985, die Walter Kaspar aufgesetzt hat, zur Geltung und ist dann im Abschlußdokument der Bischofssynode 1987 „Christifideles laici“ weiter ausgeführt worden.

In dieser Theologie werden zentrale Momente durch die Punkte Mysterium, Communio und Missio bezeichnet. Mysterium bedeutet, daß eben das Geheimnis Gottes selber die Sache ist, um die es in der Kirche geht. Kirche ist nicht ein äußeres Instrument, Volk sein ist nicht ein äußeres Instrument, um das durchzubringen, was Gott eigentlich aus sich selber will. Volk, der Volkscharakter, das Miteinander, das Verbundensein auf diese Art und Weise, die Untrennbarkeit von Christus und Kirche steht wesentlich dafür, daß Gott als Gott sichtbar wird. Eine Einheit, die eine Vielfalt einschließt, eine Einheit, die, weil sie Liebe ist, Gemeinschaft stiftet, eine Einheit, die nicht ein bloßer Durchweg von oben ist, sondern eine Gegenseitigkeit, diese Einheit ist das Geheimnis Gottes selber. Dieses Geheimnis des Dreifaltigen, der sich schenkt und in dem wir uns ihm geben, was sich geschichtlich ausgelegt in Menschwerdung und Passion und Auferstehung Jesu, dieses alles Umfassende ist mit drinnen in diesem Volk, genau das ist das Mysterium. Deswegen bringe ich nochmals das Wort Ikone.

Das Volk, das von diesem Martyrium erfüllt ist, ist also wirklich etwas wie ein Sakrament und wie eine Ikone. Es gibt eine Gegenwart des Heiligen, die in diesem Volkscharakter da ist. Das ist nicht ablösbar – das ist das Ent- [50] scheidende – von der Grundsubstanz des Christlichen. Darin ist aber zweitens natürlich mitgegeben, daß dieses Geheimnis, dieses Mysterium eben Communio ist. Und Communio bedeutet dieses gegenseitige Aneinander-Teilhaben, daß jeder das Ganze ist. Erinnern wir uns, was ich von Cyprian sagte: Wie Christus das Ganze, alle in sich trug, so muß jeder alle in sich tragen. Wenn wir uns fragen, was denn Volk überhaupt bedeutet, dann sind die Strukturmomente von Volk, die hier drinnen sind, folgende: Volk ist ein Subjekt, das aus vielen Subjekten und deren gegenseitiger Beziehung besteht. Diese gegenseitige Beziehung zeigt, das jeder dem anderen sich selber schuldet und daß jeder das Ganze in sich trägt. Das eine Volk trägt jeden in sich und jeder trägt jeden und das Ganze in sich. So gibt es eine Weise von Subjekt, die eben nicht System ist, das von oben durchgreift, und nicht bloß Summe, die aus Interessenkoalition erfolgt, sondern eine Verbundenheit in einem vorgegebenen Gemeinsamen, die aber das einzelne und den einzelnen nicht auslöscht, sondern gerade ermöglicht und in eine Gegenseitigkeit und in eine Gemeinsamkeit hineinsetzt.

Es ist so, daß im Volk Gottes die Unaustauschbarkeit der Worte ich, du und wir überwunden wird. Ich – jeder einzelne, du – jeder einzelne im anderen und wir: eine Gemeinsamkeit, die das Ich nicht auslöscht, aber trotzdem übersteigt. Diese Communio, die in Jesus Christus gegründet ist, ist der zweite Punkt.

Diese Communio bedeutet natürlich Missio und das heißt Auftrag für die Welt. Denn es wird ja darin nicht nur irgendeine christliche Spezialität sichtbar, sondern es wird etwas sichtbar, von dem die Welt leben kann und ohne das die Welt nicht leben kann.