Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
Dissonanzen
Wir täten dem „Winter in Wien“ Unrecht, wenn wir am Ende nur die Österlichkeit im „Bergwerk des Glaubens“ und die Hoffnung auf die unverbrauchte Generation sähen, die des Wunders [125] fähig ist. Wir müssen ebenso sehen, was da an Fragen aufgebrochen und nicht beantwortet ist, was da an Ganzem und Gutem zersprang, ohne geheilt zu werden. Reinhold Schneider äußert immer wieder die Überzeugung, daß die Theologen mit ihm nicht zufrieden seien – und er ist es nicht mit ihnen. Wir sollten es nicht durch eine „bessere Theologie“ wettzumachen suchen. Wir müssen die Dissonanzen nennen. Ein Christentum, das die Natur, auch die unterm Sündenfall, nicht mehr vom Bilde Gottes beantwortet weiß (vgl. 222), eine „Offenbarung der Liebe“, die „kein Wort an die Kreatur, die Räume, die Gestirne, auch nicht an die Geschichte“ ist, ein Christentum, in dem alles, was Weltordnung angeht, nur „Zutat der Theologen“ wäre (vgl. 132) – ist dies das ganze Christentum, ist dies die ganze Botschaft? Und weiter: „Geht“ christlicher Glaube, wenn er sich zurückzieht vom Ausgriff auf die Unsterblichkeit (vgl. 98–102, 119, 69)? Am drückendsten und schrecklichsten: das Ersterben des Vaternamens, das Unglaubwürdigwerden der Botschaft von der Liebe: „ich kann eigentlich nicht ,Vater‘ sagen“ (119; vgl. 131, 171, 245).
Vielleicht ergreifendstes Zeichen die verschlossenen Lippen unter dem verehrenden Blick für die Hostie, das Abbrechen der Übersetzung des zuvor auf portugiesisch ganz gegebenen Textes von Murilo Mendes: „Die Wolke, die jungfräuliche Rose, das reine Wasser, der Sphärenklang gehören den Engeln, nicht mir. Und die Hostien …“ (113). Der im Deutschen ausgelassene Text: „Reine Hostien, vergebens erhebt ich euch über mich“ (ebd.).