Macht und Ohnmacht des Wortes
Dramatik des Wortes
Nun aber versuchen wir, in einem kleinen zweiten und wiederum recht formalen Schritt die innere Dramatik dieser Anfangssituation des Sprechens ein bißchen deutlicher zu machen; denn in dieser Dramatik spielt unser Thema: Macht und Ohnmacht des Wortes.
Wir können hier zunächst sagen: Ich bin kleiner als mein Wort, ich bin kleiner als die Sache, ich bin kleiner als der Partner.
Ich bin kleiner als mein Wort; denn mein Wort ist eben nicht nur mein Wort, sondern Wort einer Sprache, das vieles andere assoziiert, das vieles [84] andere mehr mit zum Spiel bringt als nur das, was ich jetzt in diesem einen Moment sagen will. Ich sage in jedem Wort mehr, als ich, strenggenommen, sagen will; denn dieses Wort läßt noch andere Assoziationen zu, die ich nicht alle übersehe und mit denen ich mich nicht immer voll identifiziere, ja die ich vielleicht gern ausschließen wollte, die so aber eine Eigenmächtigkeit über meine Sprachintention hinaus gewinnen. Ich bin kleiner als mein Wort. Mein Wort, gesagt, hat sozusagen ein Eigenleben, entfaltet sich, sagt anderen etwas, was ich vielleicht gar nicht damit sagen wollte, ist zitierbar. Ich glaube, daß jeder große Dichter und jeder große Denker, der zitiert wird, höchst erstaunt, ja sogar unwillig wäre, wenn er hören würde, wie er zitiert wird und wie diese Zitationen gemeint sind. Das Wort ist größer als ich. Ich bin kleiner als mein Wort.
Ich bin auch immer kleiner als die Sache, die ich sage. Ich probiere, mich genau auf sie einzuspielen, sie genau in den Blick zu bekommen. Ich probiere, tatsächlich so zu sprechen, daß meine Sache als sie selbst vorkommt – das, was ich sagen will –, aber sie geht eben doch durch das Nadelöhr meines Sprechenkönnens, Sehenkönnens, Verstehenkönnens hindurch. Sie ist in meine Perspektive, in meine begrenzte Reproduktionskraft dieser meiner Perspektive, in meine unscharfe Relation zu meiner eigenen Perspektive und darin meiner Perspektive zur Sache mit eingeschlossen.
Ich bin immer kleiner als die Sache, die ich sage; ich bin immer geringer als das, was die Sache von sich selbst her, wenn sie rein und ganz gesehen würde, zur Sprache bringen wollte. Nicht nur durch die Sprache als solche, sondern auch durch mich.
Ich bin immer auch kleiner als mein Partner. Denn ich kenne nicht alle Verstehensmöglichkeiten, Verstehenschancen, Kombinationen, die in ihm sind; ich kenne nicht quantitativ den ganzen Kontext dessen, was sein Verstehen und Reagierenkönnen ausmacht. Und ich bin in einem noch radikaleren Sinn kleiner als er, weil ich eben nicht seine Freiheit, sein Antwortenkönnen bin, sondern ihm als das Gegenüber immer gegenüber bleibe, weil nie dieses eine, das Selber-Sprechen, das hinter seinem Sehen, hinter seinem Sprechen steht, von mir übernommen und abgelöst werden kann.
Nun könnte ich genau dieselbe Formalität – ich werde es nur im Ansatz tun – von jedem Pol her noch einmal durchdeklinieren, um zu zeigen, daß jeder Pol nicht nur kleiner ist als der andere, sondern auch größer als der andere. Versuchen wir einmal, dies beim Ich nur ganz grob, in Andeutungen, zu sehen. Ich bin natürlich größer als mein Wort, denn ich kann auch andere Worte sagen, ich habe mich zu diesem Wort entschlossen, ich kann dabei [85] noch anderes denken, ich hätte es auch anders sagen können. Und wenn ich so bin, daß ich es faktisch nur gerade so ausdrücken kann: in sich ist das Ich selbst als sprechendes dennoch seinem Ausdruck überlegen. Immer verhält es sich zu ihm als Quelle, kann sich so und so und auch anders zu ihm verhalten: redlich, engagiert, distanziert, sich verstellend. Ich bin größer als mein Wort.
Ich bin auch größer als die Sache. Denn ich rede zwar von einer Sache, aber ich könnte auch von anderen Sachen reden. Sprache hat dies wesenhaft an sich, daß nur der sprechen kann, der im Grunde über alles Mögliche sprechen kann, auch wenn er dieses „alles Mögliche“ nie im quantitativen Sinn ausschöpft. Nur der spricht, der eigentlich auch weitersprechen kann. Nur der spricht, der einen Punkt macht, wo er diesen Punkt nicht machen müßte. Nur der spricht wahrhaft von etwas, der in einem grundsätzlich weiterreichenden Horizont, im Kontext des Je-Mehr steht. Es wäre zu umständlich, dies nun zu verifizieren. Aber das Wesentliche von Sprache, daß ich mich nämlich in meine Sprache hineingeben kann, liegt eben gerade darin, daß ich je größer bin als meine Sprache und größer als die Sache, von der ich in meiner Sprache jetzt und hier und so und nicht anders spreche. Nur weil ich im Grunde zu allem hinreiche, weil ich nach dem Ganzen frage, weil der Horizont des Ganzen mir offen ist, gibt es Sprache und nicht nur irgendein unterhalb der Sprache liegendes determiniertes Informationssystem.
Ich bin immer auch größer als mein Partner, und zwar einfach deswegen, weil ich ja nicht nur mein Wort an ihn richte, sondern auch das, was ich mir bei meinem Wort denke und wie ich mich zu meinem Wort verhalte, was ich zwar ins Wort bringen kann, was sich aber nie im Wort erschöpft – denn ich begegne ihm immer als dieser, der hinter seinem Wort steht. Ich bin mehr als nur meine – wenn ich dieses Wort gebrauchen darf – „Verwortung“, ich bin mehr als die Gestalt, in die ich in meinem Wort eingehe, ich bin als Ursprung dieser Gestalt überlegen; aber ohne diese Gestalt nimmt mein Partner mich nicht wahr, und insofern bin ich größer als der, als welcher mein Partner mich erfährt. Ich bin ihm so überlegen. Wer das Reden hat, hat eben die Chance, nicht nur sich zu geben, wie er ist, sondern dahinter steht je noch sein eigenes Geheimnis, das als solches nie ganz in den Partner eindringt. Und deswegen bin ich ihm auf diese Weise überlegen.
Dieses Kleiner-Sein und Größer-Sein jedes Poles im Verhältnis zu jedem Pol ist die Dramatik, die im Anfangen des Redens immer schon im Gange ist. In der Tat, in jedem Sprechvorgang spielt die Dramatik meiner selbst, die Dramatik der Sache, die Dramatik der Sprache und aller Betroffenen. [86] Wie wird ihr Zuwachs, wie wird ihre Identität, wie wird ihre Veränderung, wie wird ihre neue Perspektive, wie wird ihr gesamter Lebenskontext dadurch verändert? Genau darin, daß ich auf der einen Seite sprechend diesen Gesamtkontext sowohl meiner selbst als auch meines anderen wie der Sache wie der Sprache verändern kann, liegt meine Macht. Und darin, daß ich diese Veränderung nicht absehen und absichern kann, liegt meine Ohnmacht.