Theologie als Nachfolge

„Dramatische“ Entfaltung des Grundgedankens

Das in dargelegten Gedanken Gewonnene ist für Bonaventura indessen nicht Endstation – es wird vielmehr in zweifacher Dramatik weiterentfaltet. Die erste Dramatik spielt zwischen dem in diesem Gedanken Gedachten und dem ihn denkenden Denken. Einerseits ist Bonaventura der Inhalt des Gedankens so unabweislich, daß er es für widersinnig hält, sich ihm zu verschließen. In anderem Zusammenhang betont Bonaventura: „Auch wenn du sagst: Gott ist nicht, so folgt: Wenn Gott nicht ist, so ist Gott.“1 Andererseits aber begegnet Bonaventura faktischer Ablehnung, mehr noch faktischem Unberührtsein des Denkens von diesem Gedanken. Er führt dies auf die Verfassung des menschlichen Geistes zurück: „So nimmt das Auge unseres Geistes, fixiert auf Einzelnes oder Allgemeines, das Sein selbst, das über jeder Gattung steht, dennoch nicht wahr, obschon es als erstes dem Geist begegnet und durch dieses erst das Andere.“2 Darum verschlingt sich mit der Selbstverständlichkeit des Gedachten bei Bonaventura die Unselbstverständlichkeit des Gelingens dieses Gedankens. Der in sich selbstverständliche Gedanke bedarf der Disposition, der Reinheit des Denkens, der Hinwendung des Blickes auf das, was sich ihm zeigen will, der Kraft, zu verweilen, durchzustoßen. So nimmt Bonaventura nach der Zwischenbemerkung über die „wunderliche Blindheit des Intellekts, die jenes nicht beachtet, [142] was sie zuerst sieht, und ohne die sie nichts erkennen kann“,3 seinen Gedanken wieder auf mit der Einladung: „Schau also, wenn du es vermagst, das reinste Sein selbst“,4 und er beschließt den darauf folgenden Gedankenschritt mit dem Nachtrag: „Wenn du dies in der reinen Einfalt des Geistes schaust, so wirst du ein wenig durchströmt werden von der Erleuchtung ewigen Lichts.“5

Eine noch tiefere Schicht derselben Dramatik zwischen Gedachtem und Denken: Der selbstverständlichste Gedanke muß, um nicht in sich verfehlt zu werden, unselbstverständlich sein. Nachdem Bonaventura die Selbst-verständlichkeit des actus purus in jene Bestimmungen hinein entfaltet hat, ohne die er nicht actus purus wäre, in denen aber seine Göttlichkeit sich offenlegt, hat er Sorge, solche Stimmigkeit des Gedankens könne seine innere Sprengkraft verschatten, und er setzt neu ein: „Doch du hast noch genug Grund, um dich zur Bewunderung zu erheben.“6 Und das „Wunderbare“, das sich da auftut, ist nicht nur in sich mehr als Gedanke, es betrifft auch mich nicht nur im Denken, sondern im Sein: „Dies vollkommen zu schauen heißt selig sein, so wie dem Mose gesagt ist: Ich will dir jegliches Gute zeigen (Ex 33, 19).“7

Wenden wir uns nun der zweiten Dramatik zu; sie spielt in der „sachlichen“ Weiterentfaltung des gewonnenen Anfangs allen Denkens: des actus purus. Wir beschränken uns auf die Angabe der Stufen ihres „dramatischen“ Ganges. Zunächst wird geklärt, warum die Urfülle so leer erscheint, warum das Denken glaubt, auf dieses Erste und alles Tragende blickend, doch nichts zu sehen. Den Grund nannten wir: Die Gewöhnung des geistigen Auges ans Dunkel des bloß Abkünftigen und Vorletzten läßt das reine Licht wie Nacht erscheinen.8 Von hier aus wird die „Qualität“ des reinsten Seins aus sich selbst her aufgeschlossen, werden die Bestimmungen der Fülle aus der Bestimmung „reine Wirklichkeit“ erhoben:9 Das reinste Sein ist notwendigerweise das Ab-solute, das Anfänglichste, es ist ewig, es ist das Einfachste, das Wirklichste, Vollkommenste und aufs höchste Eine. Der innere Zusammenhang der Einzelbestimmungen wird sodann deutlich gemacht:10 Eine kann nicht ohne die andere gedacht werden, sondern schließt die andere mit ein; indem alle das reine Sein aus- [143] legen, legen sie sich gegenseitig aus. Darin aber bestimmen sie ihre Einheit im „Sein selbst“ zugleich als dessen Einzigkeit. Der Gedanke an die reine Wirklichkeit, an den actus purus, ist der Gedanke an einen einzigen unwiederholbaren, ausschließenden Akt: an den einzigen Gott. Solche Schlüssigkeit erweist sich, in sich selber weiterbedacht, als das Wunderbare, Verwunderliche schlechthin; denn sie legt sich dem endlichen Denken in paradoxe, gegenläufige Bestimmungen hinein auseinander:11 Gerade weil das reine Sein das Erste ist, ist es auch das Letzte; weil das Ewige, auch das Gegenwärtigste; weil das Allereinfachste, auch das Allerumfassendste; weil das Wirklichste, weil höchste Aktualität, auch reine Unveränderlichkeit; weil das Vollkommenste, zugleich das Maß-lose, Unermeßliche; weil das auf höchste Weise Eine, auch das Allgestaltige. Doch hier wehrt Bonaventura nochmals dem Mißverständnis, das den Anfang des Gedankens in die Krise führte: Er betont, daß diese Bestimmungen nicht auf die „Wesenheit von allem“ tendieren, sondern auf „aller Wesenheiten übererhabenste und allumfassendste und hinreichendste Ursache“.12 Der Gedanke dreht sich: Das reine „In sich“ der Urwirklichkeit wird in seinem Außenbezug, in seinem Verhältnis zum Anderen bestimmt.13 Jede der genannten Polaritäten in sich hat auch eine entsprechende Bedeutung für das Seiende, das durch das reine Sein ins Sein gerufen werden kann. Solche Betrachtung mündet in die Erkenntnis, daß das Erste und Eine alles in allem ist, alles in allem aber gerade als Eines gegenüber allem. Dieses Eine, das zugleich alles ist, aber legt sich zusammenfassend aus als „einfachste Einheit, lichteste Wahrheit und lauterste Güte“, der „alle Mächtigkeit, alle Urbildlichkeit und alle Mitteilsamkeit“14 innewohnt. Diese Eigenschaften Gottes als des Seienden und des Einen kehren alsdann in Bonaventuras Entfaltung der Trinität wieder, verweisen auf das Eigentümliche der drei göttlichen Personen.

Die Inhalte, die Bonaventura in der Dramatik zutage fördert, welche den Kern seines philosophischen Gottesgedankens entfaltet, sind die „klassischen“. Bedeutsam ist jedoch die Dynamik der Entfaltung selbst, da sie eine Denkweise vorbil- [144] det, die wohl erst in den Entwürfen des Idealismus mit solcher genetischer Stringenz wiederkehrt. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das Vorgehen: Die eine Bestimmung reines Sein wird in mit ihr notwendig mitzusetzenden Bestimmungen hinein ausgelegt, die Zusammengehörigkeit solcher Bestimmungen, ihr gegenseitiger Einschluß und somit ihr Einschluß im ersten Gedanken werden aufgezeigt. Sodann wird jede dieser Bestimmungen als Einschluß ihres Gegenteils dargetan, ein möglicherweise verengtes Verständnis der einzelnen Bestimmungen somit transzendierend aufgesprengt. Aus den polaren Bestimmungspaaren wird schließlich die Koinzidenz von Sein in sich und Bezug nach außen erschlossen. Der in sich selbst gedachte actus purus wird als Einbeschluß der Möglichkeit seines Anderen und der Mächtigkeit zu seinem Anderen und über sein Anderes offenbar. Hierdurch wird die innere Allheit des actus purus und seine Differenz zum ihm „möglichen“ Alles, wird also reine Freiheit gedacht. Wir finden hier sozusagen die metaphysische Grundlegung dessen, was Bonaventura von einer Phänomenologie unbedingten Geistes her in seiner Spekulation über die ars aeterna ausführt. Der Zusammenhang zwischen dem philosophischen Gottesgedanken und dem Gedanken der Selbstvermittlung unbedingten Geistes zu seinem Anderen hin, zwischen Intuition des reinen Seins und Logik der Produktivität tritt zutage. Nimmt solche spekulative Leistung indessen nicht Bonaventuras „Überschuß“ über jenes metaphysische Denken zurück, dessen Erkenntniswert von Kant, dessen Seinsgerechtigkeit von Heidegger in kritische Frage gezogen wird? Die Nähe zu den anderen großen Entwürfen der Metaphysik liegt auf der Hand. Dennoch setzt deutlicher als in anderen hier die Reflexion des Denkens auf sein qualitatives Verhältnis zum Gedachten ein. Das Denken leistet nicht einfachhin sein Ergebnis, dieses Ergebnis und das Denken selbst widerfahren sich in einer Schau, die als solche verdankend auf das allein aus ist, was sich ihr zeigt, und eben darum immer wieder die Not um die Reinheit ihrer selbst, um ihre „Einfalt“ artikuliert. Die Selbstentfaltung des Gedachten im Gedanken hebt nicht die Distanz des Denkens zum Gedachten auf, diese [145] Distanz ist ihrerseits aber gerade begründet in der reinen Hinwendung auf das Eine, unausweichlich ihr als Erstes zu denken Gegebene – dieses wird in seiner Reinheit und Erstheit gerade nur gewahrt, indem das Denken, sozusagen alles Mindernde, Sekundäre abwehrend, ihm seine Selbstvermittlung zu den anderen Bestimmungen hin abliest.


  1. Hexaemeron X, 11. ↩︎

  2. Itinerarium V, 4; zum folgenden vgl. ebd. ↩︎

  3. Ebd. ↩︎

  4. Itinerarium V, 5. ↩︎

  5. Itinerarium V, 6; vgl. die noch ausführlicheren Bemerkungen zum selben in Hexaemeron V, 33. ↩︎

  6. Itinerarium V, 7. ↩︎

  7. Itinerarium V, 8. ↩︎

  8. Vgl. Itinerarium V, 4. ↩︎

  9. Vgl. Itinerarium V, 5. ↩︎

  10. Vgl. hierzu und zum folgenden Itinerarium V, 6. ↩︎

  11. Vgl. Itinerarium V, 7. ↩︎

  12. Ebd. ↩︎

  13. Hierzu und zum folgenden vgl. Itinerarium V, 8. ↩︎

  14. Ebd. ↩︎