Politik und Zeugnis

Drei Dilemmata und eine Hoffnung

Unsere Ausführungen über Politik und Zeugnis führten nicht zu Handlungsanweisungen oder zu einem Kriterienkatalog für zeugnishaftes Verhalten und Handeln in der Politik. Was stehenblieb, war allein die Aufgabe, in der Bereitschaft eines zeugenhaften Sich-Überschreitens (Sich-Verschenkens) die Spannung zwischen Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft auszuhalten, im Blick zu behalten und durch die drei Punkte hindurch die Horizontlinie zu ziehen, innerhalb derer verantwortliche und notwendige politische Lösungen zu gewinnen sind.

Sicher wäre es möglich, von den drei Polen und ihrer Spannung her noch eine Fülle materialer Konsequenzen zu entfalten. Doch auch wenn dies geschehen könnte, wäre ein dreifaches Dilemma nicht aufgelöst, das hier zu nennen ist und das im Grunde nichts anderes bedeutet als die Entfaltung der Spannung zwischen Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft.

Erstes Dilemma: Geschichte lebt von dem, was größer ist als sie. Daraus resultiert einerseits ihre grundsätzliche Gestaltbarkeit, andererseits ihre ebenso grundsätzliche Unvollendbarkeit. Das Verzweifeln an der Möglichkeit, geschichtliche, politische Lösungen zu gewinnen, die weitertragen, ist ebenso verfehlt wie die Vermutung, die vollkommene Ordnung und das Glück auf Erden produzieren zu können. Was möglich ist, ist das je angefochtene, vorläufige, hinter seinem Wesensmaß zurückbleibende, aber auf es so gerade hinweisende Zeichen.

Zweites Dilemma: Freiheit ist nur frei, wo sie auf das wahre Gute hin orientiert ist; wo sie ein nur Teilgutes oder scheinbar Gutes wählt, verfehlt sie sich. Das wahrhaft Gute aber kann nur in der Freiheit ergriffen werden. Dies führt zu einem Ringen um die politische Realisierung von Wahrheiten und Werten, die in sich von Annahme oder Verweigerung unabhängig sind, die aber politisch ohne freie Annahme nicht wirksam zu werden vermögen.

Drittes Dilemma: Wahrheit und wahre Werte sind nicht abhängig vom Konsens, sondern sind das, woran er sich zu orientieren hat – aber nur in einem faktischen Konsens kann solche Orientierung politisch relevant erfolgen. Ringen um die Wahrheit und Ringen um den Konsens miteinander zu verbinden und zu vermitteln, sichtbar zu machen, daß es sich bei beiden um ein einziges Ringen handelt, ist eine Crux des Zeugen in der Politik.

Sind diese Dilemmata Entschuldigung für eine nicht ganz gelingende Synthese? Sind sie eine Apotheose oder eine resignierende Akzeptanz des Scheiterns politischer Bemühung? Keineswegs. Sie sind Hinweis auf die Notwen- [324] digkeit des Zeugnisses, das sich vor solchen Dilemmata nicht zurückzieht, sondern gerade in ihnen sein Maß und seine Glaubwürdigkeit gewinnt.

Diese Dilemmata sind indessen noch Hinweis auf ein Weiteres; Zeugnis geht nicht gut allein. Es braucht Gemeinschaft solcher, die sich demselben verpflichtet fühlen, die sich gegenseitig stützen, befragen, tragen, die selber in Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft einander zugetan sind und so lebendige Zellen dessen bilden, was Sache ihres Zeugnisses und ihres politischen Auftrags ist: Synthese von Wahrheit, Freiheit und Gemeinschaft in gegenseitigem Sich-Schenken.