Die Bedeutung von Erfahrung für die Religionspädagogik

Drittes Modell: Verstehen*

Dieses Modell setzt bei einem entlegenen Gedanken an, bei dem des Bonaventura über die artes, die Künste und Wissenschaften, die er in Beziehung, in Proportion setzt zum Grundgeschehen des Glaubens. In seiner kleinen Schrift De reductione artium in theologiam wagt er eine Synthese zwischen der Erfahrung in der Gestalt von Wissenschaft, Kunst, Tätigkeit einerseits und Offenbarung bzw. Glaube andererseits. In beidem sieht er dieselbe Struktur, und der Weg, sie aufzudecken, ist ihm der dreifache Schriftsinn.

Ich darf den Gedanken Bonaventuras verkürzend und weitertreibend referieren: Der dreifache Schriftsinn umfaßt den sensus allegoricus – in jeder Begebenheit und an jeder Stelle der Schrift soll das Grundgeschehen, der Hervorgang des Sohnes aus dem Vater, das Kommen Jesu in die Welt, die Inkarnation abgelesen werden –, zum zweiten den sensus moralis – jede Aussage der Schrift zielt daraufhin, daß wir mit unserem Willen dem Willen Gottes, seinem Anspruch und Angebot entsprechen –, schließlich den sensus anagogicus – jede Stelle der Schrift, jede Aussage ist sozusagen Vorwegnahme der und Hinführung auf die Vollendung, auf die Einung mit Gott, in welcher wir und alles verwandelt werden. Bonaventura deckt nun auf, daß auch Erkenntnis und Tun und entsprechend der Sinn der verschiedenen Künste und Wissenschaften in diesen drei Grundvollzügen bestehen: Einmal geht es darum die Wirklichkeit zu verstehen und in ihr die sich schenkende Liebe Gottes zu verstehen; zum anderen geht es darum, der sich zeigenden oder sich uns zu gestalten gebenden Wirklichkeit zu entsprechen und darin gerade dem Willen Gottes zu entsprechen; schließlich geht es darum, die bloßen Begebenheiten und Fakten zu verwandeln und sie so gerade einzubringen in ihren bleibenden Kontext, in den Kontext des Lebens mit Gott.

Stellen sich nicht in der Tat angesichts aller Erfahrung schon rein menschlich und innerweltlich die drei Aufgaben: erkennend und deutend verstehen – entsprechend und aufarbeitend bestehen – ge- [350] staltend, assimilierend und verändernd verwandeln? Alles von der in Jesus offenbaren Liebe Gottes her verstehen, bestehen und verwandeln ist aber auch der Vollzug eines ganzen, inkarnierten Glaubens. Einweisung in diesen Glauben ist Einweisung in das Verstehen, Bestehen und Verwandeln der erfahrenen Wirklichkeit. – Auch hieraus ließe sich ein religionspädagogisches Programm doch wohl entwickeln.

So unverbunden diese drei Modelle nebeneinander stehen, mir scheint, daß sie auch von sich her ineinander stehen, einander ergänzen. Denn die mehr „objektiven“ Felder „ich – andere“, „Glaube – Kirche“, „meine Welt – große Welt“ werden brisante, spannungsgeladene Felder gerade dadurch, daß sich hier Freiheit erfährt und aufgegeben ist in den scheinbar anderen, im Grunde aber eingelagerten Feldern von Funktion, Kommunikation, Spiel und Grenze. Was sich aber hier der Erfahrung gibt und aufgibt, ist eben dies: verstehen, bestehen, verwandeln.

Es ist die zugleich naive und komplizierte Frage des Religionsphilosophen an den Religionspädagogen, ob sich aus einem solchen spannungsreichen Ineinander nicht doch auch ganz konkrete Modelle religionspädagogischer Bemühung entwickeln ließen. Ich kann freilich aus meiner religionsphilosophischen Käferperspektive nicht entscheiden, ob solches praktikabel ist, ob solches direkt möglich ist oder ob es bestenfalls ein Hintergrund sein kann, der als solcher in den religionspädagogischen Modellen nicht unmittelbar sichtbar wird.