Die Bedeutung von Erfahrung für die Religionspädagogik
Drittes Prinzip: Struktur*
Damit habe ich im Grunde bereits das dritte Prinzip genannt: Es ist die Struktur selbst, in der Glaube und Erfahrung sich einander zuspielen, die Struktur, wie sie ineinander treffen können.
Diese Struktur geht sowohl von der Offenbarung wie von der Erfahrung aus. Sie geschieht als das gegenseitige Sich-Annähern, Sich-Zuspielen der beiden – in der Mitte aber liegt der unableitbare, in Geschenk und Entscheidung zugleich geschehende Sprung. – Ich darf dies an einem Beispiel verdeutlichen, das ich Johannes Ev. Kuhn entlehne: Hier wird, um es abgekürzt zu referieren, der Glaube als der eine Pol mit der Zahl Null bezeichnet, der andere Pol, die Erfahrung, wäre sodann ein Bruch, dessen Zähler die Eins ist und dessen Nenner variabel ist. Es ist nun möglich, diesen Bruch, der die Erfahrung bedeutet, immer mehr dem Nullwert zu approximieren, indem ich die Zahl des Nenners immer weiter Richtung Unendlich erweitere. Aber ich kann konkret diese Zahl Unendlich nie erreichen. Zwischen der konkreten Zahl im Nenner und dem Unendlich, das den Bruch auf Null hin erweiterte, bleibt stets noch eine Unendlichkeit.
Religionspädagogik wäre hier also jene Erweiterung des Nenners, durch den die Tendenz der Erfahrung auf den Glauben hin deutlich wird. Zwischen dieser Tendenz, die als solche plausibel zu machen ist, und der Einlösung dieser Tendenz – der Nenner wird unendlich, der Wert des Bruches also Null – liegt aber eben der Sprung von Gnade und Entscheidung. Religionspädagogik hat nun beide Aufgaben: die Aufgabe der Approximation, der Aufweisung der Tendenz also, und die Einübung auf den freilich nicht machbaren, nicht abnehmbaren Sprung zu. Ja Religionspädagogik ist die gesamte Struktur.
Das heißt freilich auch: diese Bewegung in der umgekehrten Richtung, in der Richtung von der Offenbarung her auf die Erfahrung zu vollziehen. Wie schon gesagt, ist Erfahrung je schon in der [346] Verfaßtheit von Offenbarung mit inne; aber die Erfahrung, die in den Zeugnissen von Offenbarung inkarniert ist, steht noch nicht von sich her im Horizont der Erfahrung, die wir machen. Offenbarung hat sozusagen den Sprung in sich selber, den Sprung der Übersetzung in einen Erfahrungshorizont, aber dieser Sprung, der zu ihrer „kontinuierlichen“ Bewegung gehört, muß je neu vollzogen werden. Das Je-mehr der Offenbarung unserer Erfahrung gegenüber ist eine Quelle, aus der das Entspringen andauernd geschehen muß, damit der Strom weitergeht. Überlieferung ist je neues Entspringen aus der Quelle, je neue Übersetzung in einen je neuen Horizont mitgebrachter Frage, bereits geprägter Vorerfahrung. Dieser je eigenen, je neuen und je anderen Ursprünglichkeit sowohl der Erfahrung als auch der Offenbarung Rechnung zu tragen, die gegenseitige Approximation und den gegenseitigen Sprung zu vollziehen: dies ist Programm und Notwendigkeit „geschehender“ Religionspädagogik.