Die Stunde des Neubeginns
Ein Blick in die Welt der Bilder
In einer sozialen Bildungsstätte war ich kürzlich zum Thema „Kirche und Arbeiterschaft“ eingeladen. In den ansprechend gestalteten Räumen sah ich vielerlei Fotografien und Poster. Mir schoß der Gedanke durch den Kopf: Wie empfänden es wohl die üblichen Besucher des Hauses, wenn anstelle dieser Bilder etwa Darstellungen vom Isenheimer Altar, aus der Sixtinischen Kapelle, aus mittelalterlichen Buchmalereien oder altchristlichen Mosaiken hingen? Wie ein Blitz beleuchtete mir dieser merkwürdige Gedanke die Situation, in die ich hineinzusprechen hatte: die tiefe Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft. Trotz mancher Äußerungen interessierter Offenheit und brüsker Ablehnung ist meiner Überzeugung nach Entfremdung bzw. Fremdheit die treffende Bezeichnung für die Grundsituation der Kirche in der modernen Gesellschaft. Mit diesem Stichwort werden zugleich die Notwendigkeit und die Not einer Neuevangelisierung der ehemals christlichen Länder deutlich.
Nicht nur in Arbeiterbildungsstätten, auch in Museen läßt sich ein Umbruch in der Welt der Bilder feststellen, der weit mehr als nur ein ästhetisches Phänomen ist. In jener „großen Kunst“, der wir in Sammlungen und Ausstellungen begegnen, treten mit Anfang des industriellen Zeitalters plötzlich christliche Inhalte in den Hintergrund. Daß einigen bedeutenden Künstlern unseres Jahrhunderts wieder überzeugende Darstellungen biblischer Themen gelingen, hebt den historischen Grundbefund nicht auf. Was moderne Künstler im allgemeinen ins Bild bringen, ist seit Aufklärung und Industrialisierung nicht mehr zuerst und vor allem die Botschaft des Evangeliums. Es wurden im 19. Jahrhundert zwar viele fromme Bilder gemalt, aber sie waren nicht mehr im selben Sinn „in der Welt“ wie noch die großen Fresken des Barock, die ganz selbstverständlich zur Lebenswelt ihres Zeitalters gehörten.
Machen wir die Gegenprobe: Auch wer heute mit Wohlgefallen und mit menschlichem und geistlichem Gewinn in die Bildwelt des Mittelalters oder der christlichen Antike blickt, der schaut in eine „andere Welt“. Es ist ein Bildungsschritt notwendig, um sich in sie hineinzuversetzen, in sie einzutreten. Das kann nicht durch den Austausch von Szenerien, Requisiten, Bildmilieus ausgeglichen werden. Die Schwierigkeit liegt an der anderen Art und Weise, wie Menschen vergangener Zeiten Wirklichkeit unwillkürlich erfahren, wie sie Überlieferungen aufgenommen, wie sie beiderlei Wahrnehmung ins Wort und ins Bild gebracht und schließlich in ihre Lebenswelt integriert haben. Man kann dagegen einwenden: Auch der Goldgrund mittelalterlicher Flügelaltäre war nicht unmittelbare Lebenswelt – aber die Dimension der Transzendenz, der grundlegende Bezug des Menschen zum Göttlichen, wofür der Goldgrund ein Symbol ist, gehörte in diese Lebenswelt hinein. Oder: Auch im Spätmittelalter erfolgte ein Umbruch, und zwar in die neue bürgerliche, auch von der klassischen Antike bestimmte Vorstellungswelt – aber in diesem Umbruch wurden doch die Inhalte „mitgenommen“ und neu etabliert. Solches aber ist beim Bruch der Aufklärung und Industrialisierung zweifellos nicht gelungen.
Es bleibt also dabei: Wir finden in der modernen Bildwelt und in unserer Lebenswelt nicht mehr das Milieu, in dem wir die christlichen Grundinhalte plazieren und verständlich machen könnten. Das bringt unser Verkünden des Evangeliums und Sprechen vom Glauben in eine grundlegend andere Situation, die wir weithin noch gar nicht wahrgenommen, geschweige denn reflektiert haben. Wie läßt sich die Andersartigkeit der heutigen [5] Welt gegenüber der Welt der letzten zwei Jahrtausende bestimmen, in der das Evangelium anscheinend ohne solche Verständigungsschwierigkeiten in das Leben der Menschen und ihre Kultur hineinsprechen konnte?