Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“

Ein frommes Buch

Die Frömmigkeit eines Ijob und eines Jeremia, eines Elija und so vieler Psalmen bewährt sich darin, daß Fragen nicht verdrängt, sondern gestellt, Klagen nicht unterdrückt, sondern ins sich entziehende Antlitz Gottes hineingerufen werden. Sicher, sehr oft berichten uns die heiligen Bücher auch die Antwort. Aber sie tun es nicht immer, wenigstens nicht im Sinn einer systematischen Auflösung. Und nie – das ist die Frömmigkeit des Fragenden und Klagenden – gibt dieser die Antwort sich selber. Die Frömmigkeit Johannes des Täufers ist es, daß er seine Jünger zu Jesus schickt und so ihm die bohrende Frage seiner Einsamkeit zuträgt: „Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?“ (Mt 11, 3), statt den negativen Bescheid auf diese Frage sich aus den bitteren Erfahrungen selber herauszurechnen. Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“: Verwirrende, alles gefährdende Fragen werden laut, sie werden nicht Antwort, sie werden nicht Hypothese, sie bleiben Frage.

Sicher, nicht jede Frage, die bleibt, ist fromm. Fromm ist die Frage nicht, die sich nur als unerledigt ad acta legt, fromm ist vielmehr die Frage, die wartet. Wartet auf jemand. Warten aber – „ich warte auf dein Wort“ (Ps 119,74) – kann man eigentlich nur aus Treue. Treue zu etwas, das mich warten heißt, Treue zu einer Erfahrung, die ich nicht preisgeben darf, Treue zu einem Anfang, der in seiner Gültigkeit den Anspruch an mich erheben darf, daß ich nicht davonlaufe, mich nicht ansiedle auf [97] einem fremden Grund. Wo wird die Kirche jeden Morgens sein? – das ist eine der elementaren Sorgen Reinhold Schneiders, um sich das Netz zu knüpfen, das Geschenk und Entzug, Verheißung und Bedrohung dieses Winters einfängt ins eigene Dasein (vgl. 7 u. 15). Treue nicht zu einer Gewohnheit, sondern Treue, die wartet und, weil sie wartet, fragt, auch wenn ihr die Frage zur ungeheuerlichen Bedrohung wird wie in den Antlitzen der Kirchenlehrer an Pilgrams Kanzel am Stephansdom (vgl. 73).

Frage, die wartet in Treue zu einem Wort, das dem eigenen Dasein nie erlaubt, abzufallen aus der Situation der Antwort, auch wenn diese Antwort nur noch Anfrage zu sein vermag – so klärt sich des weiteren die Frömmigkeit des „Winter in Wien“. Und aus solcher Treue wird es nicht Inkonsequenz, wenn Reinhold Schneider von den ihn beinahe beschämenden Schwierigkeiten seiner eigenen Situation im Gespräch mit einem Freund berichtet, der sozusagen wider Erwarten als Gläubiger sich an den Gläubigen wendet: Carl Zuckmayer. „Ich komme seit einigen Jahren in solchen Fällen in eine schwierige Situation. Fest überzeugt von der göttlichen Stiftung und ihrer bis zum Ende der Geschichte währenden Dauer, ziehe ich mich doch am liebsten in die Krypta zurück; ich höre den fernen Gesang. Ich weiß, daß er auferstanden ist; aber meine Lebenskraft ist so sehr gesunken, daß sie über das Grab nicht hinauszugreifen, sich über den Tod hinweg nicht zu sehnen und zu fürchten vermag“ (79). Das Schwergewicht der eigenen Existenz zieht weg von der Stoßrichtung der Botschaft, und doch bleibt sie unangetastet, bleibt sie Pol der eigenen Existenz, auch wenn deren anderer Pol in eine sich mehr und mehr überdehnende Spannung zum ersten Pol tritt. Berühren wir hier noch nicht das Was der Spannung, berühren wir auch nicht die äußerste Konsequenz im Wie solcher Treue, im vollzogenen Gebet. Beides wird uns noch zu beschäftigen haben. Hier geht es nur darum, die Grundstruktur einer Frömmigkeit aufzudecken, die sich durchhält, wo ihr Gegenüber sich entzieht, von dem sie doch lebt – denn Frömmigkeit ist eine Tugend, die ohne Gegenüber nie geht, sie lebt von Gnaden ihres Anderen und erreicht ihre Spitze zugleich doch dort, wo sie über dieses Andere nicht mehr verfügt und in solchem Nichtverfügen in die Erfahrung letzter Einsamkeit gewiesen ist.

[98] Diese Frömmigkeit des Nichtmehrsehens ist nichts bloß Willentliches, ist nichts Gewalttätiges. Sie lebt aus Überzeugung, die sich nicht zerstört, indem sich ihre Plausibilität auflöst. Beim Gang durch das Naturhistorische Museum erfährt Reinhold Schneider: „Gott ist ebenso nahe wie fern“ (129). Er kann angesichts der Gestaltenfülle und des inneren Reichtums des hier Geschauten an Gott nicht zweifeln – und doch verschattet die eisige, auf Zerstörung um des Lebens willen angelegte Gesetzmäßigkeit der Natur ihm das Antlitz des Vaters (vgl. 131). Und das Nichtzweifelnkönnen im Nichtverstehen, im Nichtmehrsehen ist nicht rationales Konstrukt, sondern Erfahrung, innerste Sensibilität der Seele für etwas, das sich ihr erschlossen hat. „(N)iemand glaubt an Gott, weil er ,bewiesen‘ wurde, sondern weil Gottes Sein sich in ihm ereignet hat, weil Gottes Sehen an ihm, in ihm geschah, wie Nikolaus Krebs von Berncastel lehrte; weil Gott sein Auge auf ihn richtete. Gott ist der unbeweisbare Wirkende, der anschaut, den er will“ (124).

Die in der Treue bewährte Grunderfahrung hält – und zugleich hält sie das Entgleiten nicht auf. Aber sie gibt ihm einen anderen Ton, macht sogar noch das Entgleiten „fromm“: „Ich fühle mich aus dieser Wirklichkeit, diesem Wahrheitsbereich gleiten, ohne Einwand, immer in Verehrung und Dankbarkeit, ohne jegliche Rebellion, aber eben doch für mich, gezogen von meinem Daseinsgewicht, mit geschlossenen Augen, verschlossenem Mund“ (113).

Mehr noch, solches Entgleiten hat eine „fromme“ Paradoxie, denn es tendiert nicht in ein beziehungsloses Außen, sondern, ohne dessen aus sich mächtig zu sein, in ein Innen und Unten, die einbehalten sind im Woher. Der Dichter erhofft sich einen Platz im Laderaum des Schiffleins Petri (vgl. 241). Die heiligen Zweifler an Pilgrams Kanzel im Stephansdom sind eben „beherbergt im heiligen Raum. Es müssen Tod und Zweifel in der Kirche sein. Vor ihren Mauern bedeuten sie wenig, sind sie überall. Aber hier! Welche Konzeption der Kirche, die Raum für solche Schmerzen, solche Haltungen hat!“ (114).

Um nicht mißverstanden zu werden: damit ist keineswegs alles in Ordnung, alles einzuordnen, alles verstaut. Im Gegenteil, das Draußensein ist schmerzlicher im Drinnen als im Draußen. [99] Und doch ist diese Tendenz ins Innen eben: Frömmigkeit.

Die Momente der eigentümlichen Struktur solcher Frömmigkeit haben sich uns gezeigt. Enttäuschung, Unverstehen, Klage werden zur „Frage ins Angesicht“, wachsen hinaus über bloße Skepsis, über lauten oder lautlosen Abschied. Frage aber, die sich selbst aushält und nicht aus sich selbst Antworten zimmert, steigt aus der Treue. Diese Treue bleibt bei einer Erfahrung, die ihren Grund als ein an sie ergehendes Wort versteht, das den Erfahrenden in die Situation des Antwort Schuldenden weist. Dies erleichtert nicht seine Situation, hält nicht die Wirkung der Schwerkraft auf, die in die gegenläufige Richtung drängt. Aber noch das Fallen und Gleiten bleiben umfangen von der Ehrfurcht, und in ihnen eine Tendenz zum Innen, das die Spannung zur verlorenen Mitte, zum sich entziehenden Ursprung allerdings nicht mildert, sondern ins äußerste des Schmerzes steigert. Reinhold Schneiders „Winter in Wien“ ist ein frommes Buch.