Lerne am Herd die Würde des Gastes

Ein Haus für unterwegs

Der Versuch einer Rekonstruktion des Italienbildes Klaus Hemmerles muss insofern weit zurückgehen, und zwar bis in die Monate von September 1951 bis Mai 1952. Der Ausgangspunkt ist nicht St. Peter in Rom, sondern St. Peter im Schwarzwald, das Priesterseminar der Erzdiözese Freiburg. Dort traf der Alumne Hemmerle nämlich auf den Priester Dr. Rudolf Herrmann (1906–1988),1 der zwei Jahre zuvor, 1949, die Aufgabe des Spirituals in St. Peter übernommen hatte und diese bis 1985 innehaben sollte.

Rudolf Herrmann war der Überzeugung, dass Priester, und zwar gerade Weltpriester ein viel dichteres Gemeinschaftsleben pflegen müssten, und er fand damit bei Klaus Hemmerle und weiteren Seminaristen bzw. späteren Freiburger Priestern Anklang. Die Gruppe, die sich mit der Intention eines gemeinschaftlichen Lebens um Herrmann scharte, bat ihn, eine Weltpriestergemeinschaft ins Leben zu rufen. Doch dieser habe abgelehnt. Er sei kein Gründer, habe dazu nicht das Charisma. Allerdings habe er sich auf den Weg gemacht und nach einer solchen Gemeinschaft gesucht.

„Dann kam das Jahr 1957. Im Sommer ging Rudolf [Herrmann] zu Pater Lombardi[2] und war von ihm tief beeindruckt. Dieser sagte zu ihm, daß das, was er in der Theorie anbiete, bei der Fokolar-Bewegung in die Praxis umgesetzt würde. Um dies zu erleben, solle er auf die Mariapoli nach Fieri di Primiero in die Dolomiten gehen. Rudolf ging unverzüglich dorthin, und ich erinnere mich noch lebhaft, wie er an einem Tag im August in unsere kleine Wohnung in Freiburg hereinstürmte und ausrief: ‚Klaus, ich hab‘s!‘“3

Ein Jahr später, im Sommer 1958, fuhr Klaus Hemmerle das erste Mal nach Italien, und zwar ebenfalls in den kleinen Ort Fieri di Primiero im norditalienischen Fassatal zur so genannten Mariapoli.4

Die Idee der Mariapoli, in einem Ferientreffen, in einer „Stadt auf Zeit“, das Leben aus dem Wort Gottes und das Leben gegenseitiger Liebe zu erproben und sichtbar zu machen, bei Klaus Hemmerle verfing sie. Nach Deutschland zurückgekehrt machte er sich zusammen mit Rudolf Herrmann sofort daran, andere Priester, aber auch Laien im Sinne der Fokolar-Bewegung zu sammeln.5 Die Bedeutung, die diese erste Italienreise und die Begegnung mit der Fokolar-Bewegung für Klaus Hemmerle gehabt hat, fasste er in einem 1994 wenige Tage vor seinem Tod geführten Gespräch in dem Satz zusammen: „Zum ersten Mal habe ich da Gott wirklich erfahren.“6

Ingeborg Bachmann hat im eingangs zitierten Selbstzeugnis von einer Art „Doppelleben“ gesprochen, das sie führe: „[D]enn in dem Augenblick, in dem ich in mein Arbeitszimmer gehe, bin ich in Wien und nicht in Rom.“7 Ja sie sei, gerade weil sie sich in Rom befinde, „besser“ in Wien. Denn nur in der Distanz zu Wien könne sie in einer für ihre Arbeit förderlichen Weise in Wien sein.8

Klaus Hemmerle hat in Italien ebenfalls einen Raum gefunden, den er dann nicht mehr missen wollte, einen Raum, in dem er „besser“ leben und „besser“ glauben konnte: das Fokolar. Allerdings ist die Signatur dieses Raumes nicht die Distanz, sondern die Nähe – wie es schon der Name „focolare“ sagt, der von der Bevölkerung Trients der um Chiara Lubich entstehenden Gemeinschaft verliehen worden ist. Denn „focolare“ bezeichnet den Herd bzw. die Feuerstelle und meint Wärme und familiäre Geborgenheit.

Außerdem konnte Klaus Hemmerle diesen in Italien gefundenen Raum mit sich fort nehmen: zunächst zurück nach Freiburg und später zu den anderen Orten seiner Wirksamkeit. In Italien hatte er ihn gefunden, aber er war nicht an Italien gebunden. Insofern meine ich, in einem kleinen Text, den er 1984 anonym publiziert hat, in einer auch anonymen Weise beschrieben zu finden, was das Fokolar, das Hemmerle in Italien für sich entdeckt hatte, für ihn war:

„Trag dein Haus,
bleib unterwegs.
So macht es die Schnecke:
sie erobert mit ihrer Klausur auf dem Rücken
die offene Welt.
So macht es Gott:
er zieht mit dem Volk
und wohnt in seiner Mitte
– er hatte zu tragen an ihnen,
bei denen zu bleiben er sich band.
So macht es sein Sohn:
er geht mit uns,
er ist der Weg
– und trägt das Kreuz,
sein letztes Haus.
Und du?
Trag dein Haus,
bleib unterwegs.
Bau dir bei ihm ein Haus
für unterwegs.“9


  1. Vgl. Stadel, Klaus/Knittel, Franz/Dauer, Joachim (Hg.): Klein und Eins. Spiritual Rudolf Herrmann 1906–1988, March-Buchheim 1998. ↩︎

  2. P. Riccardo Lombardi SJ (1908–1979), Gründer der Bewegung „Für eine bessere Welt“ (Per un mondo migliore), deren Zentrum sich ab 1956 am Albaner See befand. ↩︎

  3. In Jesus ein Vater durch das Evangelium werden, in: Stadel u. a. (Hg.), Klein und Eins (Anm. 33), 48. ↩︎

  4. Vgl. Ausstellung Gottes (Anm. 28). ↩︎

  5. Vgl. Hagemann, Alle eins damit die Welt glaubt (Anm. 5), 44–46. ↩︎

  6. Unser Lebensraum – der dreifaltige Gott. Die Gottteserfahrung von Chiara Lubich, in: AS V, 297. ↩︎

  7. Bachmann, Wir müssen wahre Sätze finden (Anm.1), 65. ↩︎

  8. Vgl. ebd. ↩︎

  9. Priesterliche Lebensform, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1984 (= Arbeitshilfen, 36) 173. ↩︎