Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Ein Modell: Maria

Gibt es einen Punkt, an dem die Lebensform Gottes, die Lebensform des Priesters, die Lebensform der Kirche anschaulich wird wie in einem Zeichen, wie in einem Modell? Die Antwort: Maria. [217] Gottes Liebe zu ihr, ihre Liebe zu Gott führt zu den ersten Zellen christlicher Communio. In ihrem Schoß erbildet sich die erste und innigste Gemeinschaft des erlösten Menschen mit dem Erlöser, dem menschgewordenen Sohn Gottes. Die menschliche Lebensgemeinschaft, in die sie gestellt ist, ihre Ehe mit Josef wird ungebrochen ins Leben mit dem Herrn in der Mitte, ins gemeinsame Haben und Sein für ihn und mit ihm. Die Liebe, die sie ins innerste Herz trifft, die ihr den Sohn Gottes anvertraut, auf daß er in ihr Mensch werde, treibt sie unversehens hinaus, hin zu ihrer Base Elisabet, um ihr das Zeugnis der Tat und des Wortes zu erweisen. Sie ist der „Kelch des Heiligen Geistes“; die drei entscheidenden Stationen ihres Lebens sind bestimmt vom Geist, der sie hineinnimmt ins Allerheiligste Gottes: Der Geist kommt über sie als die Kraft, aus der ihrer Jungfräulichkeit die Fruchtbarkeit der Mutterschaft erwächst. Sie steht unter dem Kreuz und ist mit-leidende Zeugin jener letzten Hingabe des Sohnes, in welcher dieser den Geist dahingibt, auf daß er uns, seine Kirche erfülle. Sie weilt schließlich bei den Jüngern, die versammelt sind, um von dem zum Vater heimgekehrten Herrn der Kirche das zu erwarten, was ihn und den Vater verbindet: den Geist. Was Maria in ihrer leibhaftigen Verbundenheit mit dem Herrn und in ihrer leibhaftigen Nähe zu ihm wie keine sonst ihm erweist, den Dienst der Liebe, das erweist sie im Geiste auch den Gliedern seines Sohnes, denen sie vom Kreuz her Mutter, Zuflucht der Sünder, Heil der Kranken, Trösterin der Betrübten wird. Dreifältig wohnt sie im Haus des Herrn: Das Haus von Nazaret, wo ihr Sohn sie und Josef als lebendige Mitte verbindet, wird zum ersten christlichen „Gotteshaus“. Und wenn der Junger, den Jesus liebt, sie in sein Haus aufnimmt, so ist der tiefste Sinn solchen Weilens beieinander, den Raum [218] zu schaffen für den Herrn in der Mitte. Und schließlich gehört sie eben ins Haus der Kirche, in welchem einmütig im Gebet der Geist erwartet und empfangen wird. Maria ist Sitz der Weisheit, indem sie dem Wort Raum gibt, das Wort in sich wirken, seinen Plan mit der Menschheit vollenden läßt und indem sie aus solcher Weisheit heraus Wegweiserin der anderen wird: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5) Die Weisheit, die als Anfang aller Wege bei Gott selber wohnt, die heimlich um alle Wege der Menschen ist und sie zusammenführt, sie tritt ein in das Leben der Welt; sie findet ihren beständigen Wohnsitz, im Schoß, im Herzen, im Leben Mariens (vgl. Sir 24). Maria – der Hintergrund, auf dem allein Jesus erstrahlt – ist schließlich das Schweigen, in welchem das göttliche Wort wohnt, die Schale, die uns die Frucht des Lebens darreicht, der Verbindungspunkt aller, die glauben. In ihr schürzt sich der Knoten der vielen Fäden, die in Gottes Netz zusammengebunden sind: Maria, Mutter der Christenheit, Mutter der Menschen. Sie sind Schwestern und Brüder, Freunde, indem sie nicht nur den einen Bruder und in ihm den einen Vater, sondern von ihm her auch die eine Mutter haben. Für den Priester ist dieser Blick auf Maria von besonderer Dringlichkeit. Er kann von ihr etwas lernen, was er von niemand anderem so lernen kann: den Vorrang des Seins vor der Leistung, der Stille vor der Aktion, der Treue zum Ruf vor dem eigenen Planen und Unternehmen. Weil Maria in sich selbst „nichts“ ist, das Nichts der alles empfangenden und annehmenden Liebe, deswegen wird sie, ohne sich zu verlieren und zu verzetteln, allen alles. Sie steht dort, wo des Priesters Standort ist: am Kreuz ihres Sohnes, in welchem die Liebe, die in Gott ist, sich uns überläßt und überantwortet, um uns Menschen Lebensform und Lebensinhalt, um uns Menschen Heil zu werden.