Der Himmel ist zwischen uns

Ein neuer Ansatz von Pastoral

Gott hat seine Sorge um die Menschen Menschen anvertraut. Wenn wir dieses Vertrauen Gottes ernst nehmen, macht es uns zu schaffen. Nicht verwunderlich, dass die verschiedensten Ansätze von Pastoral nebeneinander, mitunter gegeneinander stehen. Und dies zumal in einer Situation, in welcher es das Evangelium allem Augenschein nach nicht eben leicht hat, bei den Menschen anzukommen. Die einen meinen: Gottes Angebot, seine Wahrheit, seine Weisungen, seine Sakramente sind doch da; bringt sie möglichst oft an möglichst viele Menschen heran, dann wird sich das Leben der Menschen schon ändern. Die anderen meinen: Das bloße Angebot tut es nicht; wir müssen von den Bedürfnissen der Menschen ausgehen, müssen neu danach fragen, was Christentum und Kirche ihnen für ihr Menschsein zu bieten haben.

Eine andere Spannung: Sollen wir den einzelnen aus seinem Milieu herauslösen, damit er ganz persönlich dem Evangelium begegnet und sich entscheiden kann? Oder ist das Milieu so übermächtig, dass nur eines hilft: das Milieu ändern?

Und weiter: Pastoral, die das Evangelium so anbieten will, dass es für alle vertretbar und verkraftbar wird, die Rücksicht nimmt auf die Menschen, wie sie nun einmal sind – oder Pastoral, die sich im vorhinein darauf einstellt: Das Evangelium ist nun einmal eine Provokation, immer mehr wird Kirche kleine Herde, Schar der Entschiedenen sein, Zeichen [61] des Heils, nicht Hafen des Heils?

Schließlich: Pastoral von heute lässt sich nicht mit Methoden und Strukturen von gestern machen, der alte Geist braucht neue Mittel und neue Wege. Dieses Konzept steht gegen das andere: Es fehlt am Geist; intensiver glauben, radikaler glauben, und alles andere wird uns hinzugegeben.

Natürlich lässt sich in all diesen Spannungsfeldern ein ausgewogenes Sowohl-als-auch, eine gesunde Mitte finden. Aber ein überzeugender Ansatz von Pastoral wäre dies noch nicht. Der Ausgleich von Einseitigkeiten, das Vermitteln richtiger Teilaspekte führt allein nicht zum Ziel.

Dies müsste für eine christliche Pastoral außer Frage stehen: Der einzige, der die Pastoral machen kann, ist Gott. Damit allein, dass er uns in Jesus Christus erlöst hat, kann Pastoral anfangen. Sicher, er sendet uns, er will sich unser bedienen, wir sollen sein Werk weitertragen. Aber es muss doch klar bleiben, dass nicht wir die Manager Gottes sind, sondern dass die Initiative bei ihm liegt, dass er es ist, der Menschen zu sich bekehrt.

Gott macht die Pastoral. Heißt das, zuerst auf das objektive Heilsangebot, also auf die Wahrheit des Evangeliums und die Gnade der Sakramente setzen? Heißt das, es als die erste Voraussetzung der Seelsorge ansehen, sich selbst heiligen zu lassen, um Werkzeug für die Heiligung der anderen zu sein? Auf beides kann der nicht verzichten, der nicht Gott selbst aus dem Spiel halten will bei seiner Pastoral. Aber braucht es nicht noch mehr? Gott macht die Pastoral, das muss doch auch und zumal heißen: Jesus in unserer Mitte macht die Pastoral.

Jesus in unserer Mitte ist das Ziel der Pastoral. Das Ziel der Weltgeschichte und der Kirche, das Ziel auch des Lebens eines jeden einzelnen ist die vollendete Gemeinschaft mit dem Herrn in der vollendeten Gemeinschaft mit [62] den anderen, ist der Herr in der Mitte der Gemeinschaft der Heiligen, in der Mitte des Himmlischen Jerusalem, der neuen Schöpfung. Dieses Ziel muss als unwirklich erscheinen und als beziehungslos zu jener Wirklichkeit, in der wir leben, wenn von diesem Ziel nicht auch hier und jetzt etwas erfahrbar wird. Jesus in der Mitte derer, die an ihn glauben, aber ist der Anfang des Endgültigen.

Er ist nicht nur das Endziel der Pastoral, sondern auch ihr Nahziel. Wo Menschen lernen, mit Jesus in ihrer Mitte zu leben, da ist die Heiligung des einzelnen, die Durchdringung des einzelnen von Jesus Christus ebenso gewährleistet wie die Gestaltung von Welt aus dem Geist Jesu, der Aufbau eines Miteinander aus seiner Liebe. Institution hört nicht auf, aber sie hört auf, bloße Institution zu sein; in ihr geschieht lebendige Kommunikation. Kirche ist nicht nur Großorganisation, sie ist aber auch nicht ein Nebeneinander einzelner Gruppen. Er ist zwischen denen, die eine Gruppe, eine Familie, eine lebendige Zelle bilden; er ist zwischen Gruppen, Familien, Zellen als die eine Mitte der Gemeinde; er ist zwischen den vielen Gemeinden als die eine Mitte der Kirche.

Die Spannungsfelder, die uns bei unserem ersten Hinblick auf die Pastoral auffielen, finden hier eine Mitte, die mehr als Kompromiss ist.

Angebotspastoral oder Bedürfnispastoral? Wo der Herr unter uns ist, da wächst die Empfänglichkeit für das Angebot seiner Wahrheit und seines Heils in Verkündigung und Sakrament. Wort, Sakrament, Liturgie hören nicht auf – im Gegenteil! Aber sie hören auf, bloße Gnadenmittel zu sein; sie bringen das Leben in Gang und bringen das Leben zum Ausdruck, um dessentwillen sie uns gegeben sind. Und umgekehrt knüpft eine Pastoral, die auf Jesus in unserer Mitte hinzielt, [63] bei den Urbedürfnissen des Menschen an, bei seinem Hunger nach Kommunikation, nach Geborgenheit, nach erfülltem Dasein. Aber diese Bedürfnisse kreisen nicht mehr um sich selbst, sie werden eingelöst, indem sie verschenkt werden, indem es uns mehr um den Herrn zwischen uns geht als um uns selbst. Er ist das Maß, nicht wir – und gerade so kommen wir zu uns selbst und zueinander.

Personale Pastoral oder Milieupastoral? Jesus kann in unserer Mitte nur leben, wo der einzelne sich entscheidet, sich stellt. Doch wo er unter uns lebt, entsteht eine neue Atmosphäre, ein neues Milieu, das Menschen Bergung und Heimat gibt und das sie befähigt, diese neue Atmosphäre auch ihrer Umgebung einzustiften, von innen her die Verhältnisse zu verwandeln. Der Allmächtige in unserer Mitte ist mächtiger als das übermächtige Milieu.

Offene Pastoral oder Entscheidungspastoral? Gerade das Unbequeme und „Unzumutbare“ des Evangeliums schließt sich auf, wo Menschen in die Entschiedenheit hineinwachsen, um jeden Preis Jesus in ihrer Mitte zu halten. Ihre Einheit miteinander aber weiß sich in Anspruch genommen vom Gebet des Herrn: Lass alle eins sein, damit die Welt glaube (vgl. Joh 17,21). Die gegenseitige Liebe, die sich unter das Maß der Liebe Jesu stellt, wird keinem den Anspruch Jesu ermäßigen, sie wird aber jedem soweit wie Jesus selbst entgegenzugehen versuchen. Radikalität und Offenheit sind zwei Seiten derselben Liebe.

Methodenerneuerung oder Glaubenserneuerung? Wo Jesus in der Mitte der Glaubenden wohnt, da ist der Lehrer, der Meister, der Hirt unter ihnen. Das bedeutet einerseits: Es kommt auf ihn allein an, Vertiefung, Erneuerung geschieht allein von ihm her. Keines seiner Worte, keine seiner Gaben werden geringer geachtet. Andererseits bedeutet es aber: [64] Jesus zwischen uns lässt die alten Strukturen und Methoden neu werden, oder er lässt neue Strukturen und Methoden entstehen. Erneuerung ist Erneuerung des Glaubens, der Glaube selbst aber hat eine inkarnatorische, eine schöpferische Kraft, sich von innen her neue Wege zu öffnen.

Jesus in der Mitte ist nicht nur Ziel, er ist auch Methode der Pastoral. Zwar nicht eine, die andere Methoden überflüssig machte, erst recht nicht ein Kunstgriff, mit dem ich mir rasch einen pastoralen Erfolg verschaffen könnte. Und doch kann auch in allen Methoden die Methode nur er sein. Die Pastoral, die er macht, hat eine eigentümliche Gangart.

Der den ersten Schritt dabei machen muss, bin immer ich selbst. Es ist alles eher als selbstverständlich, dass ich jemand bei mir habe, mit jemand in Kontakt stehe, von dem ich weiß: Wir beide setzen alles daran, mit Jesus in der Mitte zu leben. Da muss zuerst einmal ich so leben, dass andere ihn, seine Liebe in mir finden und von ihm angezogen werden. Ich muss auf andere so zugehen, dass sie spüren: Ich kenne sie nicht dem Fleische nach (vgl. 2 Kor 5,16), ich suche in ihnen nicht einen Vorteil, eine Hilfe, eine Ergänzung, ich beurteile sie nicht nach Sympathie oder Abneigung, ich nehme sie an wie den Herrn. Und weiter müssen sie spüren: Ich lebe aus dem Herrn, ich höre mehr auf seine Stimme in mir als auf meine eigenen Ideen oder auf die gängige Meinung. Und für mich heißt das: Ich lebe aus seinem Wort, aus seinen Sakramenten, ich höre, was er in den vollmächtigen Zeugen und Boten der Kirche mir zu sagen hat. Und vor allem suche ich ihn dort, wo er mich am meisten geliebt hat, in den Schwierigkeiten und Dunkelheiten, die für mich das „Sakrament“ seiner Kreuzesverlassenheit, seines Sterbens sind.

Dann, irgendwann, vielleicht nach langer Zeit wird einer mir begegnen, der „mitmacht“. Es darf uns allein um ihn gehen. [65] Wichtig ist, keinen Schritt ohne ihn in unserer Mitte zu tun. Das meint nicht eine äußere Ängstlichkeit, die sich immer auf die Meinung des anderen abstützt, sondern die beständige innere Rückfrage an den Herrn, der in mir, in dir und zwischen uns leben will: Was willst du, das ich tun soll? Unser Reden und Tun soll Ausdruck von ihm selber werden. Zeichen dessen, dass wir ihn nicht verwechseln mit dem, was uns zweien gefällt, ist gerade die Rückbindung an sein Wort und an jene, die uns etwas in seinem Namen zu sagen haben. Diese Rückbindung kann schmerzlich sein, kann manchmal Ansätze stören und zerstören, von denen wir glaubten: Jetzt endlich! Aber nur der Weg durchs Kreuz führt zum österlichen Herrn in unserer Mitte.

Und in der Regel werden wir nicht lange warten müssen, bis, oft unerwartet, andere hinzustoßen, die nicht wir uns ausgesucht haben, bis neue Zellen sich bilden und unser Versammeltsein zu zweit oder zu dritt in seinem Namen sich ausweitet.

Wie leben diese Zellen? Jeder fängt jeden Tag neu an, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Jesus in unserer Mitte sein kann. Aber wir müssen uns gegenseitig dabei helfen. Wir haben den Mut, von unserem Leben mit Jesus in unserer Mitte zu sprechen, wir versammeln uns ausdrücklich auf seinen Namen hin. Das heißt: wir fragen uns, ob wir jetzt so zueinander stehen, dass Jesus in unserer Mitte sein kann. Wir erzählen einander, wie wir die Woche oder den Monat über von ihm her, von seinem Wort her gelebt haben, wo er uns Licht geschenkt, wo er uns Schwierigkeiten aufgezeigt, wo er uns Wege gewiesen hat, sie zu überwinden. Wie in allen Lebensbereichen, so gilt auch hier: Das, wovon man nicht spricht, fällt allmählich aus dem Bewusstsein, es büßt an Realität für uns ein. Aber auch das Umgekehrte gilt: Was nur [66] dann da ist, wenn ich von ihm rede, ist nicht ganz da. Es muss auch still und selbstverständlich in uns und zwischen uns wachsen, dass wir von ihm her Menschen und Dinge sehen. So wird allmählich er zwischen uns wichtiger als eigene Wünsche und Meinungen, mächtiger als Ängste, Hoffnungen und Eindrücke von außen. Jesus in der Mitte ist also nicht nur Thema bei Meditation und geistlichem Gespräch, er will all unser Tun und Verhalten bestimmen, etwa die Weise, wie wir einen Besuch empfangen, wie wir eine Arbeit tun, wie wir uns miteinander erholen.

In den Beziehungen nach außen wird Jesus in unserer Mitte ein Schatz sein, den wir behutsam bergen, nicht zur Schau stellen. Apostolat mit Jesus in der Mitte besteht nicht darin, dass wir von Jesus in der Mitte reden, sondern dass wir ihn mitbringen. Er selbst muss die Frage nach sich im anderen wecken, nicht wir. Er selbst weiß die Stunde, wann er zur Sprache kommt, nicht wir.

So aber wird eine scheinbar gegenläufige Bewegung sich anbahnen. Jesus in der Mitte zieht andere an, gewiss. Aber es werden nicht nur, ja nicht einmal zuerst neue Zellen wachsen, sondern wir werden ihn einzubringen vermögen in die vorhandenen Gemeinschaften und Strukturen und sie von innen her beleben. Jesus in der Mitte des Pfarrgemeinderats, Jesus in der Mitte eines Seelsorgeteams, Jesus in einer Familie oder einem Kreis von Familien, Jesus im Betriebsrat, im Büro, in einer Schulklasse, in einem Kloster. Es geht also nicht darum, Strukturen neben die vorhandenen Strukturen zu bauen, es soll nicht ein Strom entstehen, der sich an den vorhandenen Institutionen und Gruppen und Kreisen vorbei seine Bahn bricht. Sicherlich, eine solche Bewegung braucht Menschen, die Pionierdienst leisten. Ohne dass Neues wird, kann Bestehendes nicht neu werden. Also auch neue Gruppen, neue [67] Zellen – aber sie sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern um dessentwillen, der in der Mitte aller da sein will.

Dieses Programm mag utopisch klingen: alles durchdringen mit Jesus in der Mitte. Haben wir nicht schon viel zu oft die Erfahrung gemacht, wie widerständig und träge die Masse von Institution, Gewohnheit, Egoismus und Skepsis allenthalben in Kirche und Gesellschaft ist? Aber ist solches Kalkulieren, ist solcher Rekurs auf schlechte Erfahrungen nicht Kleinglaube? Auch unter wenigen ist Jesus der Allmächtige. Und an je mehr Stellen er unter wenigen gegenwärtig ist, desto vielfältiger wirkt seine Strahlungskraft hinein in das scheinbar undurchdringliche Milieu.

Damit ist die Gegenfrage keineswegs abgetan: Wenn Kirche für alle, fürs Ganze da sein soll, ist es dann nicht eine Überforderung, ein Elitechristentum, das Leben mit Jesus in unserer Mitte als Maß zu setzen? Doch niemand hat mehr und schenkt mehr die Leidenschaft fürs Ganze als gerade er. Wenn wir mit ihm in der Mitte leben, dann leben wir mit dem, der allein die Macht hat, auch den Äußersten und Fernsten zu erreichen. Nur das Licht, das wir zwischen uns hell sein lassen, hat die Kraft, nach außen zu strahlen, neues Licht zu entzünden.

Die Pastoral, die Jesus in der Mitte macht, ist Pastoral für alle. Wo er das Ziel und die Methode wird, da machen nicht mehr wir unter Berufung auf ihn unsere Pastoral, sondern er selbst macht mit uns seine Pastoral.