Pilgerndes Gottesvolk – geeintes Gottesvolk

Ein ökumenischer Seitenblick

Wir betonten bereits: Die im Wesen der Kirche verankerte Unterschiedenheit und die aus ihr resultierende Verschiedenheit sind nicht ein Weniger an Einheit und Gleichheit, sondern die Bedingung dafür, daß Einheit und Gleichheit Ausdruck lebendiger Beziehung und somit lebendiger Liebe sind. Daß in der Endlichkeit des Ausdrucks eine Pluriformität in theologischer und Lebensgestalt einbeschlossen ist, gehört zu den Urerfahrungen, für welche das Neue Testament mit seinen unter­schiedlichen „Theologien“ und Ausprägungen des Gemeindelebens bereits Zeuge ist. Die daraus resultierende Pluriformität war aber nie als das beliebiger Auswahl unterbreitete Angebot zu verstehen, so oder so Christ und Glied der Kirche zu sein; vielmehr gehört zum Innern des Wesens von Kirche und zu ihrer Geschichte von Anfang an das Ringen um das eine Bekenntnis und die Vorausset­zung dieses einen Bekenntnisses für die Besiegelung der vollen communio in der einen Eucharistie. Im Medium der Endlichkeit, der Geschichtlichkeit ist die eine Fülle nur in einer Vielfalt von Formen darzustellen, die indessen nur dann die Fülle darstellt, wenn sie die Einheit, und nur dann die Einheit, wenn sie die Fülle zugleich sicht­bar macht. Der Widerspruch im Bekannten und Angenommenen aber macht nicht die Einheit und nicht die Fülle sichtbar, sondern er ist Zeichen von noch nicht voll erreichter Einheit. Zu unterscheiden vom Widerspruch ist die Verschiedenheit von Akzentsetzungen und von Denk- oder Verstehenswegen in der Aufschließung der Botschaft.

Dies hat seine Konsequenzen im Verhältnis der Ortskirchen zu­einander und zur Gesamtkirche und im Verhältnis unterschiedlicher theologischer und spiritueller Strömungen innerhalb der [369] Kirche, es hat erst recht seine Konsequenzen im ökumenischen Verhältnis. Differenzen zu überspringen, sie nicht auszutragen, wäre nicht ein Mehr an Liebe, sondern ein Weniger, wie freilich umgekehrt die Re­duktion der Liebe auf eine mit dem Inhalt und der Wahrheit unverbundene Stilfrage ein Verkennen jener Wahrheit wäre, zu welcher die Liebe nicht Zusatz, sondern in welcher die Liebe der erste Inhalt und Ursprung ist.

Was bedeutet dann ökumenisch die gewonnene Aussage über den „ikonischen Charakter“ von Trinität und pilgerndem Gottesvolk je füreinander? Dies läßt sich anhand von drei im Ausgeführten impli­zierten Hinweisen weiter bedenken.

Erster Hinweis: Wenn der Kirche nicht weniger als die Trinität selbst das vorgegebene Maß dessen ist, was in ihr sichtbar werden soll, dann erfordert dies die Geduld, die nicht darauf verzichten kann, Wider­sprüche auszuleiden und auszuheilen, ehe Einheit als solche statuiert und eucharistisch besiegelt wird. Wenn freilich es die Kirche ist, die das Zeugnis des dreifaltigen Gottes und nicht weniger als dies der Welt schuldet, dann erfordert dies zugleich die Ungeduld, die dazu antreibt, Widersprüche nicht auf sich selbst beruhen zu lassen und sich nicht mit dem Tatbestand eines gespaltenen Zeugnisses abzufinden. Es ist dieselbe verantwortliche Liebe, welche die Geduld der angenommenen Mühe des Weges wie die Ungeduld des Strebens zum Ziel dem pilgernden Gottesvolk eingibt.

Zweiter Hinweis: Inhalte dürfen nicht durch Methoden ersetzt werden, Liebe als Stil kann nie das Ringen um die Erkenntnis oder gar diese selbst ersetzen. Und doch ist das Neue Gebot, das Mühen um das Leben aus der einen Liebe und das Durchtragen dieser einen Liebe auch in der Auseinandersetzung Sehbedingung für die Wahrheit. Deshalb ist ein geistlicher Ökumenismus, der [370] eine Spiritualität der Einheit auch dann sucht, wenn diese noch nicht im Bekenntnis erreicht ist, eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Fortschritt auf die Einheit in der Wahrheit hin. Die Sehbedingung Liebe ersetzt nicht den Hinblick auf die Wahrheit, sondern befähigt zu ihm und treibt zu ihm an. Und umgekehrt hat dieser Hinblick auf die Wahrheit diese erst in Sicht, wenn er sie als Liebe und in Liebe in Sicht hat.

Dritter Hinweis: Neues Gebot, Leben nach dem Maß der Dreifaltigkeit sind nicht nur Sehbedingung für die Wahrheit, sondern sie eröffnen auch einen Weg des Sehens, der Einssein und Einswerden innerlich „strukturiert“. Immer wieder ist uns das Wort „Perichorese“ begeg­net. Es kennzeichnet einerseits den Gegensatz zu einem bloß additi­ven Einssein, das in sich unabhängige Stücke zusammenfügt, Grenzlinien zwischen diesen Stücken verschiebt und sie schließlich zukittet. Das Wort „Perichorese“ markiert den Gegensatz andererseits zu einem blockhaften, systemhaften Einssein, in welchem keine Beziehentlichkeit, keine Vielgestalt mehr Raum hat. Perichorese heißt: Partner umfangen das Eine und Ganze und sind von ihm um­fangen, indem sie sich gegenseitig umfangen, indem der eine im anderen und der andere im einen ist. Solcher Art ist die Liebe, solcher Art ist das Ineinander und Auseinander der Personen in der Trinität. Die Anwendung auf den Weg zur Einheit im Glauben heißt nun nicht: Jeder Partner muß seine und des andern Position vertreten, dies wäre ja Verlagerung des Widerspruchs in die Partner selbst. Wohl aber heißt es: Es genügt nicht, Positionen nebeneinander zu setzen und Gründe für sie auszutauschen, sondern dem je andern offenzulegen, wie ich ihn und seine Position sehe, so daß er sich sel­ber in der Sicht, die ich von ihm habe, erkennen kann. Dies erst er­möglicht in der Auseinandersetzung ein Sprechen über dasselbe. Ein weiterer [371] Schritt, der zu einem perichoretischen Dialog gehört: je in mir selber sehen, warum, aus welcher Perspektive, aus welcher Geschichte, aus welchen Motiven her der andere denkt, wie er denkt. Dialog führt so an die Gründe, aus denen Gegensätze aufbrechen und bei denen ihre Heilung und Überwindung auch ansetzen muß.

Ein vierter Hinweis wäre freilich abschließend hinzuzufügen: Trinitarisches Einssein, gegenseitige Liebe sind uns aufgetragen, nehmen uns in äußerste Verantwortung, aber sie lassen sich nicht von uns machen, sondern sind Gabe, die uns aus dem Einssein des Sohnes mit dem Vater im Geist zukommt. Letztlich nur in der Bitte und in der Bereitschaft, sich beschenken zu lassen, sind wir disponi­bel für die Gabe der göttlichen Einheit. In solcher Disponibilität und in solchem Bitten freilich hebt bereits die Einheit an und hebt sie an, ihren Weg, den Weg des Neuen Gebotes, in die Geschichte hinein zu gehen.