Zur Entwicklung der nachkonziliaren Räte in der Bundesrepublik
Eindimensionalität des Verständnisses von Wahrheit
Der Grund für die genannte Gefahr eines nur mehr eindimensionalen Verständnisses von Autorität liegt in einem entsprechend eindimensionalen Verständnis von Wahrheit, das heute um sich greift. Der Grund hierfür: die Verwissenschaftlichung unserer Welt. Es wäre töricht, ja verhängnisvoll, sie widerrufen zu wollen. Es muß aber auf die inneren Grenzen eines bloß wissenschaftlichen Verständnisses von Welt und Gesellschaft geachtet werden. Neuzeitliche Wissenschaft bedeutet, wenigstens in ihrer verkürzenden Rezeption durchs allgemeine Bewußtsein, eine Umsetzung aller Wirklichkeit in ihre Zählbarkeit, Meßbarkeit, Verrechenbarkeit. Wahrheit wird zu der in einen kontrollierbaren Zusammenhang allgemeiner, zwingender Durchschaubarkeit und berechnender Beherrschbarkeit übersetzten Wirklichkeit. Diese Ent- [22] wicklung dient zwar einerseits der Aufklärung von Vorurteilen, Emotionen, Ideologien; anderseits droht eine neue Ideologisierung der sich quantitativ verstehenden Rationalität. Dies gilt gerade für jene Wahrheit, die von ihrem Wesen her nicht in Experiment, Kontrolle und fixierbarem Quantum aufgeht: für jene Wahrheit, die sich dem Glauben als solchem erschließt. Wenn die Analogie des Wahrheitsbegriffes dem Bewußtsein abhanden kommt, wenn es nur noch einerlei Wahrheit gibt, dann verschwindet notwendigerweise die Differenzierung verschiedenartiger Zuständigkeiten für verschiedene Schichten und Bereiche der Wirklichkeit.
Es wäre gewiß ein Kurzschluß, die Bereiche der Wahrheit einfachhin zu sortieren, indem man z. B. für Glaubensfragen allein das kirchliche Amt, für Fragen der Gesellschaft allein die Laien als zuständig erklärte. Nicht um die Reservierung bestimmter Gegenstandsbereiche für bestimmte Gruppen der Kirche oder der Gesellschaft ist es zu tun. Wohl aber ist es darum zu tun, daß die Vielschichtigkeit dessen, was zum Christsein und zur Kirche gehört, nicht nivelliert wird in eine einförmige Zuständigkeit christlichen Allgemeinempfindens (mit wissenschaftlichem Überbau oder ohne ihn), durch welches die Probleme nicht weniger rasch und verkürzt vom Tisch kommen als durch eine undifferenzierte Allzuständigkeit kirchlichen Amtes.