Weltdienst – Heilsdienst

Eine enggeführte Geschichtsbetrachtung

Auch in kirchlichen Kreisen scheint mir allmählich ein einseitiges Bild von Geschichte, eine einseitige Theorie von Geschichte zur ungeprüften Selbstverständlichkeit zu werden, und dies mit erheblichen Auswirkungen auf mannigfache Bereiche des Glaubens und des kirchlichen Lebens. Mehr und mehr wird Geschichte grundsätzlich nur noch als Befreiungsgeschichte, als Emanzipationsgeschichte verstanden und somit als dialektischer Gegensatz zu einer Herrschaftsgeschichte aufgefaßt, die Geschichte zur Leidensgeschichte werden läßt.

Dieser Ansatz, daß es in der Geschichte nur um die Befreiung von jeweils ungerechten Verhältnissen gehe, dabei jedoch wiederum nur ungerechte Verhältnisse produziert würden, hat natürlich einen heilsgeschichtlichen Hintergrund. Wenn man diesen Hintergrund aber isoliert betrachtet, droht er zu einem, echten Problem für die Geschichtswilligkeit und Geschichtsmächtigkeit, für die Weltwilligkeit und Weltmächtigkeit zu werden.

Müßten wir demgegenüber nicht in einer umfassenderen Sicht von Geschichte anerkennen, daß in der Tat [55] Emanzipationsgeschichte zwar ein Strang der Weltgeschichte ist, nicht aber schon Geschichte insgesamt ausmacht. Vielleicht sollten wir uns einmal überlegen, ob wir heute nicht zu einer gefährlichen Verdächtigung aller Macht neigen. Muß es nicht auch Macht geben in der Geschichte, Macht als Vermögen des Menschen, plausible Gestalten des Lebens, des Zusammenlebens, der Kultur hervorzubringen? Es geht ja nicht nur darum, kritisch sich von etwas zu befreien, sondern auch darum, positiv etwas zu setzen und zu gestalten. Und gerade von diesen positiven Setzungen, von diesem positiven Gestalten lebt Geschichte.

Ja, um ein integrales Verhältnis und Verständnis der Geschichte zu gewinnen, müssen wir doch wohl feststellen: Es spielt immer eine dreifache Geschichte ineinander, und nur in diesem Ineinanderspiel läuft Geschichte so, daß wir den Mut zu ihr haben können und nicht in eine bloß kritische Distanz zu ihr gelangen. Einmal ist sie Geschichte der Macht, der Macht zur Gestaltung von Welt und Geschichte. Zum anderen ist sie immer auch Geschichte der Freiheit und eines Freiheitsraumes, in dem der einzelne nicht einfach verplant wird, sondern in dem er seine Gestaltungsmacht für sein Leben und für das der Gesellschaft entfalten kann und soll. Zum dritten ist sie Geschichte der Kommunikation; es geht um eine immer dichtere und immer umgreifendere Kommunikation.

Wenn wir Geschichte in diesem dreifachen Rhythmus leben, wird sie zweifellos immer auch in der Not der Endlichkeit und der Erlösungsbedürftigkeit innestehen. Aber der Erlösungsbedürftigkeit wird als Kontrapunkt nicht allein Befreiung von ungerechter Herrschaft entsprechen, sondern auch das positive Vermögen des Gestaltens, das positive Hinlaufen auf ein Ziel wie auch der Wille, Kommunikationsmöglichkeiten herauszubilden und weiterzubilden, in der der einzelne nicht unter-, sondern [56] aufgeht. Nur in diesem Gleichgewicht werden wir Geschichte ganz verstehen und bestehen können.