Geschichte des Glaubens – Geschichte des Geglaubten?

Eine erste Zwischenüberlegung: Glaubensgeschichte als Heilsgeschichte*

Nun kommt in einem fünften Schritt eine , die mehr ist als eine solche, da sie notwendig ist, um den eigentlich fälligen, aber erst an siebter Stelle kommenden Schritt tun zu können. Sie ist eine Zwischenüberlegung insofern, als ich sie nicht einfach ableite aus dem Bisherigen. Was ich bislang gesagt habe, hat schon insgeheim die Grenzen niedergerissen zwischen fides qua und fides quae. Es ist schon so, daß das, was die fides qua, also den Glaubensvollzug, strukturiert, den Glaubensinhalt ausmacht. Aber reflektieren wir noch einmal einen Augenblick lang darauf mittels eines Wortes, das durch diese Überlegungen nicht ausgeschöpft wird, das aber hierher gehört: Die Geschichte meines Glaubens ist ja nicht nur eine Verständnisgeschichte, sondern eine Geschichte des Geglaubten, und das betrifft zunächst einmal die Sache des Glaubens. In diesem Sinne kann ich sagen: Glaubensgeschichte ist Heilsgeschichte. Wenn es um meine Zukunft und um die Zukunft überhaupt geht, geht es um das Heil. Heil soll hier heißen, daß das, was kommt, nicht einfach Vernichtung und Vergeblichkeit bedeutet, sondern daß derjenige, der sich mir zuspricht, sagt: ich bin dir Zukunft, Du hast mit mir Zukunft.

Wie geschieht Heil? Heil kommt mir zuvor. Heil ist Vorzeichen. Heil ist nicht nur nachträgliche Korrektur, sondern wenn es nachträgliche Korrektur ist, dann werde ich hinter ein unvordenkliches Vorzeichen gestellt. Vorzeichen ist hier nicht im Sinne eines Prinzips zu verstehen, aus dem ich etwas ableiten kann, sondern viel eher als jene Spur, die dadurch, daß sie sich mir einprägt und einträgt in mein Leben und in das Gesamte des Daseins, alles von Grund auf verwandelt. Es gibt ein Zuvorkommen und Unterfangen. Gerade dann kann ich frei mit einem anderen sprechen, wenn er nicht nur im Blitz des Verstehens sagt: Jetzt habe ich dich verstanden!, sondern wenn ich in ihm schon der Verstandene bin, wenn er mich versteht. Meine Vergangenheit wird plötzlich neu entworfen von der neu gekommenen Zukunft. Ich bin umfangen und geborgen. Ich bin im Heil in einer neuen Zukunft; ich komme aus einem Miteinander mit meiner Zukunft [231] her. Die neue Zukunft haben heißt herkommen. Ich erinnere noch einmal an das Bild von Michelangelo, um diesen ersten Schritt zu verdeutlichen. Ein Zweites innerhalb des Geschehens von Heil geht darüber hinaus. Denn im Heil ist jetzt alles anders. Zwar steht noch aus, was kommen wird, ich hoffe auf Heil. Aber indem das, was kommen wird, von Dir her aussteht, weil Du es mir zugesagt hast, bin ich jetzt anders. Jetzt ist alles anders, weil alles anders sein wird; das gilt auch und gerade deswegen, weil ich die Zukunft, die Du mir zusagst, nicht selbst entwerfen und konstruieren kann. Solche Zukunft verhinderte gerade Gegenwart. Ob die Technik nur immer weiterliefe und das ewige Wachstum herrschte oder ob die Technik nicht funktionierte und die große Katastrophe eines Atomkriegs hereinbräche, ist für den Menschen, der heute Angst hat, gleichermaßen schrecklich. In beiden Fällen ist jeweils alles entschieden und gelaufen. Die Zukunft, die ich ausrechnen kann, die Zukunft, die in diesem Sinne stattgefunden hat, ist, gleichviel ob sie glückt oder mißlingt, der totale Alpdruck, der mir die Gegenwart raubt. Wenn mir aber Zukunft zugesagt ist, ist sie gerade mich bergend und radikal offen in einem; dann habe ich Gegenwart, dann kann ich auf Zukunft hin leben. Jetzt ist alles anders.

Darin ist ein Drittes schon mitgesagt: Heil ist das Je Größere, Überragende, Übertreffende. In keiner seiner Gestalten perfiziert es sich einfachhin, in keiner seiner Gestalten kommt es zur Ruhe und schließt es sich ein. Heil bewährt sich in dem Je Mehr, Je Größer und Je anders gerade als solches. So begibt sich die Geschichte des Heils in diesen selben drei Momenten, in diesem dreifachen Vorrang: Ich bin geborgen, ich stehe unter Deinem Vorzeichen. Jetzt kann ich leben, jetzt bin ich nicht auf mich zurückgeworfen, jetzt bin ich aufgeschlossen und kann ich kommunizieren. Ich habe Zukunft und ich wage Zukunft, denn in Deiner Zusage wird Zukunft als Offenheit gerade er-öffnet.

Damit aber zeigt sich die Unausweichlichkeit dessen, daß das Wort des Heils, das mir gegeben ist, Heilswort nicht nur für mich, sondern für die kommenden Generationen ist, für die, denen ich es weitergebe. Da aber du nicht ich bist bei allem, das wir eins sind – wir sind ja gerade darin eins und miteinander, daß jeder einzelne von uns er selber ist, die Gemeinschaft ist ja die Ge- [232] meinschaft der Jeweiligen –, ist Heilsgeschichte und damit Botschaftsgeschichte und Glaubensgeschichte nicht abgeschlossen. In den Horizonten deines Heils- und Seinsverständnisses ereignet sich vielmehr dasselbe Wort, wenn es Heilswort ist, als je neues Wort. Wenn es mir dir, der du ein anderer bist, anders sein kann als mit mir, ist es notwendig, daß in dir die Botschaft auch Neues heißt gegenüber dem, was sie nur für mich geheißen hat. Und die Selbigkeit des ein- für allemal gegebenen Wortes bewährt sich gerade darin, daß in einer unableitbaren Weise unabgeschlossen in ihm die Geschichte des Heils für die einzelnen, für ein je anderes Du Verständnisgeschichte, aber eben nicht nur Verständnisgeschichte, sondern auch Sachgeschichte ist. Denn das Heil für die Vielen, für die jeweils unvertretbar anderen, für jeweils dich ist die Sache des Glaubens. Weil das Heil Sache des Glaubens ist, das Heil aber in jedem einzelnen, dessen Heil es ist, neu wird und in jeder Zeit, in jeder Epoche, für die die Sache des Glaubens Heil ist, neu wird, ist die Heilsgeschichte von ihrem Wesen her unabgeschlossen und ist die Botschafts- und Glaubensgeschichte unabgeschlossen.

Von hier aus wäre etwa zu fragen, ob nicht auch alle Dogmen, die in der Kirche als verbindlich verkündet worden sind, Zukunftsaussagen sind, so daß Zukunft in ihnen anders wird. In der Weitergabe und Verkündigung von Dogmen ist es für mich ein entscheidendes hermeneutisches Problem, danach zu fragen: Wie „geht“ das, wenn ich daran glaube? Erst indem ich so frage: Wie geht das?, entdecke ich eigentlich, was in den Dogmen mit mir und der Zukunft passiert. Indem ich diese Frage stelle, beziehe ich mich auf dasselbe gegebene Wort und glaube ich dasselbe und ist es doch zugleich etwas Neues, was ich glaube. Und ich weiß nicht und kann es nicht wissen, was morgen sein wird. Die Verbindlichkeit des Wortes und seiner Geschichte nehme ich in dieser Frage ebenso mit wie die Fraglichkeit, in die diese Geschichte dadurch gerät, daß sie sich weitererzählt. Und indem sie weiter in die Fraglichkeit gerät, gerät sie in die neue Geschichte hinein.