Eine neue Stadt ersteht

Eine neue Stadt ersteht

[17] Der Karlsruher Katholikentag 1992 hat Europa im Blick: Das Einswerden Europas ist eine Herausforderung der Christen und der Kirche, und dies keineswegs nur in deren eigenem Interesse, sondern um Europas selbst willen. Die Einheit Europas darf sich nicht im Funktionalen erschöpfen und darf nicht zum Ideologischen hin verkommen. „Komm herüber und hilf uns!“ (vgl. Apg 16,9), so rief einst der Mazedonier im Traum den Paulus, und damit begann die europäische Mission, und wir dürfen noch mehr sagen: in gewissem Sinne die Europawerdung Europas. Darauf uns zu besinnen, dafür Grundlinien zu entwickeln und Handlungskonzepte zu suchen, dem in konkreten Begegnungen, aus denen ein Netz von Beziehungen erwächst, näherzukommen, ist Sinn des Katholikentags 1992 in Karlsruhe.

Gorbatschows Wort vom „Haus Europa“ wurde erweitert und in gewissem Sinne korrigiert durch das Sprechen von der „Stadt“ Europa. In einem Haus wohnt man zwar zusammen, doch die Rede vom Haus Europas hat mehr das Haus mit den vielen Bewohnern im Blick, die in abgeschlossenen Appartements ihr Eigenleben führen, es freilich im Sinne der Toleranz und Verträglichkeit funktional aufeinander abstimmen. „Stadt“ hingegen hat einen weiteren Horizont: Ihre Häuser öffnen sich zueinander hin, indem sie sich auf die gemeinsamen, verbindenden Plätze und Straßen hin öffnen, Eigenständigkeit der einzelnen und Gemeinschaft zugleich steigern sich, und das Ganze erhält seine Silhouette, sein Profil, seinen Zeichencharakter und seine Partnerschaft im Größeren, im Ganzen der Welt.

[18] Die politische Grunderfahrung der griechischen Polis schwingt mit, und dann eben die biblische Botschaft von der Neuen Stadt. Aber hier beginnt es problematisch zu werden. Die Exegeten sagen uns eindeutig, daß das im biblischen Bild von „Stadt“ als Heilsort und Heilsgemeinschaft sich verfassende Verständnis in keiner Beziehung zum griechischen Polis-Gedanken steht. Und noch weiter und noch schärfer: Der biblische, zumindest der neutestamentliche Sprachgebrauch von der Neuen Stadt oder vom Himmlischen Jerusalem oder von der Stadt auf dem Berg läßt ursprünglich nicht zu, daß Linien zur irdischen Realität „Stadt“, zu Aufgaben der Welt- und Geschichtsgestaltung ausgezogen werden. Die auf unterschiedlichen Ebenen spielenden und unter sich nicht in eine stimmige gegenseitige Ergänzung gebrachten Bildelemente in den beiden letzten Kapiteln der Offenbarung (21 und 22) betonen eher den „himmlischen“ Charakter der Stadt, in dem sie kosmische Himmelsvorstellungen einfangen und ins Stadtmodell übertragen, als daß sie auslegbar wären auf die kommunikative Realität „Stadt“. Für diese bleiben nur drei Anhaltspunkte: die offenen Tore, der Wegfall des Sonnenlichtes durch das Lichtsein Gottes für diese Stadt, der Wegfall des Tempels, weil Gott selber der Tempel der Stadt ist.

Knüpfte indessen die endzeitliche Vision des herrlichen Jerusalem im Tritojesaja noch an früheren prophetischen Texten an (wie z. B. Jes 2 und Mi 4), in denen deutlich die „Kontinuität in der Diskontinuität“ zwischen dem geschichtlichen Jerusalem und dem der Heilszeit aufleuchtet, so rückt die Neue Stadt in Offb 21 und 22 davon weg, in die pure Transzendenz hinein; es bleibt allenfalls jene Antithese zum irdischen Jerusalem als Hintergrund, die uns in Gal 4,25f. und in den letzten Kapiteln des Hebräerbriefs begegnet, wo vom oberen Jerusalem bzw. der kommenden Stadt im Unterschied von der gegenwärtigen gesprochen wird.

[19] Dies alles macht es äußerst fragwürdig, die „Stadt Europa“ mit der „Neuen Stadt“ in Beziehung zu setzen. Ist deswegen der offenkundige Weltbezug der früh- und hochmittelalterlichen Kirchenbauten, die das Himmlische Jerusalem abbilden und es in den Kontext der Geschichte einbeziehen, ein barer Irrtum, ein politisches Mißverständnis, gar eine gefährliche Ideologisierung?

In zwei gegenläufigen Gedankengängen soll die „Neue Stadt“ der biblischen Botschaft nichtsdestoweniger als Überschrift über die „Stadt Europa“ postuliert und begründet werden.