Die Stunde des Neubeginns

Eine „soziale Ikone“des Evangeliums

Nichts liegt unserem Postulat einer neuen Biblia pauperum in Gestalt einer Kirche, die gelebte Communio ist, ferner als die Auflösung der Botschaft in soziale und ethische Prozesse, die bloßes Menschenwerk sind. Wohl aber ist Kirche – als Kirche im Wort Gottes – gefordert und angefragt als die „soziale Ikone“ des Evangeliums. Ikonen sind bekanntlich Bilder, in denen das, was sie verkünden, anwesend ist, geradezu sichtbar und greifbar wird. Die neue religiöse Kunst des Christentums ist zuerst die Kunst, das Wort Gottes in Leben und Beziehung und das heißt als Communio, als Kirche darzustellen. Aus dieser „Kunst“ wird, so steht zu hoffen, auch wieder die Kraft erwachsen, daß Künstler neue Bilder und Schriftsteller neue Worte prägen können.

Damit Kirche glaubwürdiger Communio wird, ist auch ein neues Verhältnis zwischen Amt und gesamtem Volk Gottes vonnöten. Die Einheit mit dem biblischen Ursprung und die Einheit im Ganzen von Kirche bleiben dem in der apostolischen Sendung verankerten Amt heute eher noch dringlicher aufgegeben als früher. Den konkreten Vollzug solcher Einheit aber kann das Amt nur „leisten“, indem es die vielen Zeugnisse und Erfahrungen in der Kirche annimmt, auf sie hört und sie füreinander verstehbar macht im einen und einzigen vorgegebenen und anvertrauten Wort. Die Subjektwerdung des gesamten Volkes Gottes und eines jeden Christen ist dringend fällig. Eigenständigkeit und Eigenverantwortung eines jeden Christen dienen ebenso der Communio wie auf seine Weise der vollmächtige Dienst des Amtes.

Schlagen wir zum Schluß wieder den Bogen zum Anfang, zu den drei kennzeichnenden Erfahrungen für die Entfremdung zwischen Wort Gottes und Leben der Menschen. Wir sagten: Kirche und Gesellschaft, Evangelium und der Mensch von heute sind nicht mehr gegenseitig „im Bilde“. Unsere Frage nach einer „Armenbibel“ für heute, nach der neuen Erschließung einer Bildwelt, in der das Evangelium und die Welterfahrung von heute authentisch inne sind, führte zum Postulat: persönlich und gemeinsam das Evangelium zu leben, auf daß es wiederum Leben stiften kann. Wo aber Erfahrungen mit dem Wort gelingen und einander mitgeteilt, miteinander geteilt werden, da kommt in der Tat die Botschaft des Wortes in Leben und Gemeinschaft verständlich und glaubwürdig ins Bild.

Wir sagten: Das Postulat des selbständigen Subjekts und der rein argumentativen Vermittlung stehen in tiefgreifender Spannung zu Autorität und Tradition. Wenn aber die Autorität und die Tradition des Wortes als Aufgabe verstanden [10] werden, mit der eigenen Existenz das Evangelium authentisch und ursprünglich zu erproben und auszubuchstabieren, werden Autorität und Tradition Weg zur Subjektwerdung, zu Originalität und Eigenverantwortung – wobei sich freilich das neuzeitliche Ich zum Du und Wir hin erweitert. Zugleich gewinnt auf diese Weise das Evangelium eine Plausibilität, die bloße Logik und reine Rationalität übertrifft; denn das konsequent und gemeinsam gelebte Wort Gottes birgt in sich selbst seine Überzeugungskraft und fasziniert durch die „neue Logik“ des Evangeliums.

Wir sagten: Die Suche der heutigen Welt und des heutigen Menschen nach einer Einheit des Lebens und der Welt droht an der Einheit stiftenden Kraft der Person und Botschaft Jesu vorbeizusehen und vorbeizugehen. Wo aber Kirche lebt, was sie verkündet, und so zur „sozialen Ikone“ des Evangeliums wird, da wird sichtbar, daß es der lebendige Herr ist, der das Leben des einzelnen und das menschliche Miteinander zur ersehnten Einheit führt. Kirche als Communio erweist sich als eine Gestalt von Einheit, die mehr und anderes ist als ein technisch-funktionaler Verbund, in dem viele isoliert bleibende einzelne relativ störungsfrei aneinander vorbeikommen, und mehr und anderes als ein geschlossenes System, das die Freiheit der einzelnen erstickt.

Dieses verlockende Ideal vermögen freilich nicht wir zu leisten, sondern nur der Geist kann uns gemeinsam zu jener lebendigen Ikone formen, die auch heute das ein und selbe Evangelium für die Menschen neu lesbar werden läßt und neu ins Wort und ins Bild bringt.