Das Beten der Kirche

Eine tiefer liegende Not

Es wäre zu wenig, diese Schwierigkeiten durch gute Argumente aus dem Wege räumen zu wollen. Stoßen wir statt dessen in eine tiefere Not vor, die uns alle heute bedrängt, wenn auch in verschiedener Wucht und vielleicht in verschiedener Gestalt.

Wer als Christ verantwortlich zu leben und Zeugnis zu geben versucht, wer gar als Seelsorger oder in einer geistlichen Gemeinschaft das Evangelium und die Sache der Kirche zur eigenen Sache zu machen sucht, der leidet unter dem Auseinanderklaffen der Welten, zumindest dreier Welten. Da ist auf der einen Seite die Welt, in der die Menschen leben, die Welt, in welcher Maßstäbe gelten und Werte anziehen, die es schwermachen, den Anspruch und das Angebot des Evangeliums ankommen zu lassen. Erst recht wird es schwer, daß Kirche, verfaßte Kirche, Kirche, wie sie geworden ist und sich darstellt, als plausibles Angebot erfahren wird. Gewiß, die Kirche hat Einfluß, man hat Erwartungen an die Kirche, man ist auch mit manchen ihrer Leistungen und Äußerungen einverstanden – aber was die Welt, was das Lebensgefühl und Lebensgefüge des Menschen zusammenhält, die verborgene Achse, um die sich das Leben dreht, schwingt nicht im Rhythmus christlicher Botschaft und ihrer Überlieferung. Die bedrängende Frage: Wie gelingt Vermittlung, wie komme ich dazwischen, wie prallt mein Zeugnis nicht einfachhin ab? Positive Beobachtungen, Erfolgsmeldungen, Symptome einer Öffnung fürs Evangelium – alles das ist partiell wahr, hat partielle Bedeutung, aber es darf die grundsätzliche Kluft zwischen den Welten nicht verdecken.

Und da ist eben diese zweite Welt, die Welt von Kirche. Die Normen, die Werte, die Argumente, die Ziele, die Ge-[21]wohnheiten, die hier gelten – das hat es offenbar genauso schwer, die Lebenswelt der Menschen in sich einzulassen, die Erfahrung des Zeitalters zu integrieren, wie umgekehrt die Welt es schwer hat mit der Kirche. Es geht hier nicht um zuviel oder zuwenig Anpassung – es geht ganz einfach um die Erfahrung, daß „die“ Kirche eine andere Welt ist als „die“ Welt. Besonders bedrängend wird dies, wenn man auf konkrete Menschen schaut. Menschen, die sich in der Kirche engagieren, die eine „Rolle“ in ihr spielen – und dann, in ihrer Lebenswelt, spielen sie eine andere. Sie haben nicht nur zwei Kleider, sondern zwei „Existenzweisen“ sozusagen zu Hause im Schrank hängen, in die sie abwechselnd hineinschlüpfen, nicht aus Opportunismus, nicht aus Feigheit, sondern einfach so, weil das Leben es mit sich bringt. Binnen weniger Stunden derselbe Mensch in getrennten Welten.

Ist das nur eine Aussage über die anderen? Oder geht es nicht immer wieder mir selber so? Wer bin eigentlich ich? Hier tut sich die dritte der drei Welten auf, zwischen denen der trennende Graben aufbricht. Mensch dieser Welt, Mensch dieser Kirche – aber wo habe ich meinen Standort? Was bestimmt und prägt mich selbst, was gibt mir meine Identität? Ohne der Welt die erforderliche Bußpredigt und der Kirche die erforderliche Reformpredigt ersparen zu wollen, muß ich doch zugestehen: Hier liegt zumindest auch und sogar zuallernächst der Ansatz meiner Not, mein Gebet zugleich als Gebet der Kirche, Gebet der Kirche zugleich als mein Gebet zu verstehen und zu vollziehen.

Ein entscheidendes Stichwort ist gefallen: „zugleich“, Gleichzeitigkeit. Ich bin zugleich Mensch dieser Epoche, dieser Welt, Mensch in dieser Kirche und für diese Kirche, dieser Mensch, dieser einmalige, ich selbst. Ich bin es zugleich – und doch bekomme ich diese drei Rollen nicht in ihre Gleichzeitigkeit, kann nicht den Bruch heilen, der zwischen diesen Welten und ihrem je eigenen Rhythmus, [22] ihrer je eigenen Zeit klafft. Wo zeigt sich hier ein Ansatz, der weiterhilft?