Geschichte des Glaubens – Geschichte des Geglaubten?
Eine zweite Zwischenüberlegung: Glaubensgeschichte als Geschichte des Ursprungs des Glaubens*
Ein sechster Schritt des Gesamtgangs bedenkt einen zweiten Zwischenschritt auf den entscheidenden siebten Punkt zu. Ich habe bislang von Heil gesprochen. Statt des Wortes Heil muß ich im Blick auf das Wort, das dem Glauben in Israel und in Jesus gegeben ist, das Wort Liebe nennen. Ich nenne es zunächst mit einem anderen Wort und sage: Heil ist Zuwendung, näherhin Zuwendung an die Zuwendung, an jene Zuwendung nämlich, die sich nicht nur dem Einen, der mein Heil ist, zuwendet, sondern dieser Grundbewegung der Zuwendung und damit eben der Weitergabe. Maleachi 3,24 ist noch einmal einzuholen: Warum muß vor dem großen schrecklichen Tag des Herrn diese Zuwendung der Väter zu den Söhnen und der Söhne zu den Vätern geschehen, damit das Land nicht mit dem Bann geschlagen wird? Sie muß deswegen geschehen, weil nur in der Zuwendung, die über das Jetzt und über das Ego und über das Jetzt-haben-wollen hinausreicht, Gottes Zuwendung ankommen und ihre Stätte finden kann. Wenn nicht die Zuwendung der Raum ist, in dem dies passiert, kommt das Wort überhaupt nicht an. Das Wort wird nicht rettendes, sondern richtendes Wort, das Wort, daß er die Zukunft ist, wenn ich nur meine eigene Zukunft haben will. Wer Zukunft nur für sich haben will und nur als Einlösung seiner eigenen Ansprüche betrachtet, nicht also als Kommunikation, Verantwortung und Weitergabe, der kann diese Zuwendung gar nicht empfangen, dem wird sie notwendigerweise zum Gericht. Wenn wir uns aber einander zuwenden und in dieser Zuwendung an seine Zuwendung uns lassen, einander gut, aber einander auch in der gegenseitigen Frage zugetan sind und miteinander weitergehen, wird aus der Geschichte der Zuwendung die Geschichte der Liebe zwischen uns.
An diesem Punkt wird endlich offenbar, daß Geschichte des Geglaubten nicht nur Geschichte einer geglaubten Sache meint, sondern Geschichte dessen, dem ich glaube, Geschichte des Ursprungs des Glaubens. Denn die Liebe hat ihre Geschichte im Geliebten. Der Geliebte ist die Geschichte des Liebenden. Gerade wenn die Liebe sich gleichbleibt als Liebe, tut sie dies nicht auf [234] die Weise der Identität der Substanz. Die Identität der Liebe als Liebe ereignet sich vielmehr darin, daß der andere meine Geschichte ist. Daß der andere mir widerfährt, daß er mich zu verletzen imstande ist, dies ist entscheidend. Wenn aber Zuwendung, Heil als Zuwendung, als Sich-Neigen und als Sich-Einlassen dasjenige ist, was sich im Wort bezeugt, dann ist es unausweichlich, daß derjenige, der in der christlichen Offenbarung den Namen Liebe empfängt, Geschichte hat. Ein- für allemal ist die Liebe, das ist ihr Wesen; sie ist auf Treue aus, sie bleibt dabei, sie gibt sich nicht auf. Sie relativiert sich nicht, sondern sie ist gerade in ihrer Offenheit, der alles widerfahren kann, endgültig. Sie ist je jetzt und je verbindlich. Sie entzieht sich nicht, und sie liebt nicht später. Liebe kann nie erst später lieben, sondern Liebe liebt jetzt, oder sie liebt nicht. Und Liebe liebt je neu, je anders, je unabschließbar, Liebe ist nie am Ende. Solche Zuwendung, die Endgültigkeit, je jetzige Verbindlichkeit und je unabschließbare, je größere Zukunft hat, ist eigentlich das einzige, was ich überhaupt nur ehrfürchtig tastend von dem sagen kann, der sich mir zugesprochen hat. Das ist es, was in einem 16. Ezechielkapitel oder in so vielen Texten bei Jeremia und bei Hosea, was immer wieder mir begegnet, das ist es, was im Gleichnis vom verlorenen Sohn und in so vielen anderen Stellen des Neuen Testaments als das Entscheidende und je Selbe und je Neue mir geoffenbart ist: Dieses Geglaubte und dieser Geglaubte hat Geschichte in meiner, in unserer Glaubensgeschichte. Die Glaubensgeschichte wird Gottes Geschichte. Glaube wird – nicht im Sinn einer substantiellen Vermischung des Menschen mit Gott – gerade in dieser Diastase tatsächlich mit Gott „identisch“, weil das, was dem Glauben widerfährt, Gott widerfährt.