Wert und Wirkungen der Religion

Einführung

Im ersten Buch der Könige überliefert uns das Alte Testament die folgende Szene: Dem jungen König Salomo, dem Sohn Davids, der dem Gott Israels unabdingbar die Treue gehalten hatte, erscheint dieser Gott und verheißt ihm, er werde ihm das gewähren, worum er bittet. Salomo aber bittet nicht um Macht und Größe, sondern um Weisheit, die not tut, das Volk in Recht und Gerechtigkeit zu regieren. Gott gefällt diese Bitte, und gerade weil Salomo nicht um etwas für sich, nicht um etwas auf die eigene Macht und das eigene Prestige Bezogenes gebeten hat, schenkt ihm Gott zu der Weisheit die Fülle der Güter und seinen bleibenden Segen hinzu, unter der Bedingung freilich, daß Salomo ihm die Bundestreue hält (vgl. 1 Kön 3,2–15).

Es mag den Anschein haben, dieser hier knapp referierte Text habe recht wenig mit der Problematik zu tun, die sich mit unserem Thema verbindet. Gleichwohl bin ich, nachdem ich viele Einstiegsmöglichkeiten in diese Problematik geprüft habe, bei dieser verblieben; denn wenig andere Möglichkeiten enthalten so viele Elemente dessen, was ich bei einer unmittelbaren Reflexion über Sache und Situation mir als des gemeinsamen Nachdenkens wert notiert habe.

Ich möchte nun nicht die Exegese oder aber die Übertragung des gewählten Textes zum Leitfaden der nachfolgenden Überlegungen machen; um diese Geschichte jedoch in der Entfaltung des Themas als Hintergrund gegenwärtig zu haben, verweise ich auf einige bedeutsame Züge.

„Was ist Ihnen besonders ‚wichtig‘?“ Dies ist der Vorspann für viele demoskopische Umfragen, die sich heute nicht selten auf die konkreten Werthierarchien von Personengruppen unserer Gesellschaft beziehen. Hier in der Salomogeschichte ist der Autor einer solchen Anfrage [42] an die herausragende Persönlichkeit des Volkes, an den König, Gott selbst, der fragt: „Wo setzt du für dich den höchsten Wert?“

So sehr der Gott des Alten Bundes ein göttlicher, herrschaftlicher und alles und alle bestimmender Gott ist, so wenig schaltet er jene Freiheit aus, die ihm partnerschaftlich antwortet, und darin ist sozusagen die Möglichkeit eröffnet, daß zwischen der vorgegebenen, durch das Gottsein Gottes bestimmten Wertsetzung und jener konkreten des Menschen sich eine Schere auftut. Dieser Gott ist zugleich auf der einen Seite ein ansprechender und in Anspruch nehmender und auf der anderen Seite ein horchender und antwortender. Aber er bleibt darin: Gott. An ihm ist es, die Wertsetzung des Menschen zum Zuge kommen oder aber scheitern zu lassen - dies nicht aus Willkür und selbstbezogener Enge, sondern weil, in der Logik religiösen Glaubens, die Wirklichkeit und mit ihr das Glück oder Unglück, Heil oder Unheil des Menschen und der Welt an diesem Gott liegt und nur in der Übereinstimmung mit ihm die Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst und mit der Welt letztlich statthaben kann. In Gott sind Wertordnung des Menschen und Seinsordnung miteinander verbunden. Über die höchst komplexen Möglichkeiten des Zusammenhangs zwischen beiden ist hier nicht im einzelnen nachzudenken. In der Ordnung der Religion jedenfalls erscheint Gott - dies läßt sich an dem referierten Text ablesen - als der Werte Gewährende und Begründende, aber auch menschliche Werte Relativierende, womit für die innere Logik der Religion die Relevanz der Religion selbst in der Frage nach den Werten prinzipiell offenliegt.

In dem Text sind freilich noch einige Nuancen enthalten, die im Blick auf das Folgende herausgehoben werden sollen. Zum einen ist bemerkenswert, daß Gott in der Antwort Salomos nicht unmittelbar ins Spiel der Werte tritt. Es gibt genügend andere Schrifttexte (vgl. beispielsweise Ps 16 und 63), die das Schauen des Antlitzes Gottes, das Weilen bei ihm als den alles andere überragenden Wert artikulieren. Bei Salomo kommt eine andere Ordnung als die des Religiösen allein zum Vorschein: Die Ordnung des Königseins wird thematisch. Aber in dieser Ordnung spielt, indirekt, Gott die entscheidende Rolle. Es ist Gottes Volk, um das es geht, und so ist das Interesse Salomos daran, daß sein Königsein gelinge, in Konvergenz mit dem Interesse Gottes selbst, der – gut alttestamentarisch – Salomo als der Bundesgott erscheint. Hier liegt ein erster Hinweis darauf, daß Gott für Wertsetzungen und Werthierarchien nicht nur innerhalb des spezifisch religiösen [43] Bereiches von Bedeutung ist, sondern Gott selbst und das jeweilige Gottesbild auch mit innergesellschaftlichen Wertsetzungen und Wertverhalten in Relation stehen.

Ein weiterer Hinweis, der in dieselbe Richtung, in jene des Bundes zwischen Gott und dem Menschen geht: Der Gott, der mit seiner Huld und seinem Wirken der ihm entsprechenden Wertsetzung des Menschen antwortet, bleibt bei seiner Antwort nur, kann bei ihr nur bleiben, solange und sofern diese Wertschätzung durchgehalten und zum konkreten Maßstab gemacht wird.

Und schließlich: Weil Gott nicht nur maßgeblich ist für die Hierarchie der Werte, sondern weil er der Herr der Geschichte, des Lebens und Seins ist, sind ihm gemäße Wertsicht und ihm gemäßes Wertverhalten auch für die sekundären Werte und für den Anteil des Menschen an ihnen von Relevanz. Freilich wird hier, wie an vielen Stellen der Bibel, deutlich, daß eine banale Verknüpfung von Treue zu Gott und Orientierung der Werthierarchie an ihm kein Instrument sind, um Erfolg und Glück äußerlich zu sichern. Vielmehr wird – im Horizont zumindest der biblischen Religion – die Einbeziehung Gottes, des heiligen Geheimnisses, zu dem der Mensch in der Religion in Beziehung tritt, für die menschliche Auffassung von Leben und Glück, von Sinn und Nichtsinn des Lebens selbst konstitutiv; Gott als das Geheimnis, welches Wert und Wirklichkeit konstituiert, relativiert auch alle anderen Werte und Wirklichkeiten.

Verlassen wir nun aber die Analyse des Schrifttextes auf Konsequenzen für unser Thema hin, und steigen wir ein in eine unmittelbare Betrachtung, die in sieben Schritten angelegt ist.