Einheit als Lebensstil

Einheit als Lebensstil

Wie kann ein Leben aus dem Wort Gottes, aus der gegenseitigen Liebe, aus dem Kreuz Einheit stiften in uns und zwischen uns und in unserer Welt? Wie können, im Blick auf die unterschiedlichen Bereiche unseres Daseins, daraus Elemente gewonnen werden, die einen „Lebensstil der Einheit“ erbilden?

Ich kann hier nicht mehr als einige Wegrichtungen skizzieren, und ich möchte es tun im Blick auf sieben Lebensfelder hin. Im Hintergrund steht dabei die Erfahrung jener geistlichen Gemeinschaft, in der ich ein solches Leben kennengelernt habe und aus der her ich es auch zu gestalten versuche.1

Lebensstil hat immer zu tun mit unserem Verhältnis zu den Gütern, mit unserem Haben und Teilen. Im Blick über die Grenzen des Privaten und der eigenen Gruppe hinaus gesagt: Heute brauchen wir eine neue Wirtschaft. Das Modell eines am dreifaltigen Leben orientierten Einsseins hat hier gewissermaßen sein erstes Bewährungsfeld: Betrachten wir das, was wir haben und was wir brauchen, nur unter dem Gesichtswinkel unserer eigenen Bedürfnisse, um hernach diese Sicht allenfalls [113] mit der Bemühung um einen Ausgleich im Interesse der Gemeinschaft zu korrigieren? Oder gehören für uns gleichursprünglich das Ganze, die anderen und je wir selbst zusammen? Sind unser Haben, Geben und Empfangen geprägt von diesem Dialog, von diesem Austausch sowohl der Armut wie des Reichtums?

Wir können gewiß nicht ein Wirtschaftssystem verordnen, das die drei Elemente durch äußere Maßnahmen gewährleistet, welche das Leben der Urgemeinde in Jerusalem in der Vision der Apostelgeschichte bestimmten: gegenseitige Liebe, die alle ein Herz und eine Seele sein läßt – Gütergemeinschaft – niemand leidet Not (vgl. Apg 2,42–47; 4,32–35). Und doch sind diese drei Elemente, werden sie übertragen in gelebte Gemeinschaft, ein Licht, um auch in der Ordnung der Gesellschaft und der Weltgesellschaft eine neue Mentalität in Gang zu bringen, die neue Ordnung, Verwandlung und Erneuerung der alten Ordnung ermöglicht. Die Verhältnisse des fundamental unterschiedlichen Anteils an Gütern und Chancen in unserem eigenen Land wie zumal in der Weltgesellschaft, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Armutsbekämpfung innerhalb der einen Welt, die Dringlichkeit einer „Kultur der Solidarität“ im Ganzen sind nicht zu übersehen. Leisten wir Christen durch unseren Lebensstil, durch unseren Lebensansatz hier unseren Beitrag? Die enge Verknüpfung von Nachfolge und Verlassen des eigenen Habens und Verfügens (vgl. z.B. Mk 10,17–31; Lk 14,28–33) und, in letzter Konsequenz, die inwendigste göttliche „Gütergemeinschaft“ zwischen Vater und Sohn im Geist (Joh 17,10; 16,15) weisen mit Nachdruck in diese Richtung. In der anderen Rolle, welche Armut und Reichtum im Kontext der Gemeinschaft des Glaubens einnehmen, hebt der neue Lebensstil der Einheit an, und ohne das vorwegnehmen oder gar herstellen zu wollen, was der Vollendung des Gottesreiches vorbehalten ist, sind wir als Christen doch es der Menschheit schuldig, den neuen Ansatz mitzuteilen und fruchtbar werden zu lassen, der im Evangelium und seiner Sicht der Einheit geborgen ist. Alles wird Geschenk, und das Geschenk erhält gerade seinen Wert und seine Kostbarkeit, indem es Geschenk zum Verschenken, zur gemeinsamen Teilhabe wird.

Communio, Gütergemeinschaft sind nicht Maßnahme, sondern neue Seinsweise. Dasselbe aber gilt von einem zweiten Feld, das sich vom ersten nicht trennen läßt, von jenem des Zeugnisses. Leben selber, Dasein selber, Gemeinschaft selber werden Missio, werden Zeugnis. Wie Licht nicht sein kann, ohne sich zu verstrahlen, Quelle nicht sein kann, ohne sich zu verströmen, so kann Glaube nicht sein, ohne sich mitzuteilen, sich zu eröffnen. Das führt nicht in eine äußere Hektik des Evangelisierens, sondern in eine Offenheit, die sich diskret aussetzt und [114] hinhält, die aber auch in unprätentiöser Redlichkeit und Lauterkeit bereit ist zum Bekenntnis in Tat und Wort. Die meine „Privatüberzeugung“ abschirmende Selbstbezogenheit und die konfessorische Aufdringlichkeit sind gleich weit von solcher Haltung entfernt.

Selten hat mich die Anfrage eines Kritikers so hart getroffen wie diese: Was tun Sie heute anders, worin verhalten Sie sich heute anders, weil Sie Christ sind?

Gibt es ein Wort für das „Andere“ christlichen Zeugnisses? Ich weiß kaum ein besseres als eben: sich einsmachen. Paulus selbst, der Missionar und Zeuge, kennt keine andere Methode (vgl. 1 Kor 9,19–23). Aber nicht nur die Stiftung von Gemeinschaft im Leben und Sehen vom anderen her ist hier gefragt, sondern die Gemeinschaft selbst, Einssein selbst sind der Ort, aus welchem das Licht des Evangeliums sich mitteilt. Nur die gegenseitige Liebe ist uns als Kennzeichen der Jünger Jesu (vgl. Joh 13,34f.) vorgestellt; nur das Einssein ist uns als der Weg Gottes, auf daß die Welt glaube (vgl. Joh 17,20–23), bezeugt.

Glaubenszeugnis, aber auch Weitergabe von Leben, Überzeugungen, Werten gehören elementar zum Lebensstil der Einheit, werden umgekehrt auch nur in solchem Lebensstil der Einheit möglich in einer von Verdacht, Reserve, Rückzug oder Pression bestimmten Gesellschaftsmentalität.

Lebensstil geht aber nicht nur nach außen, sondern in eins damit nach innen: Wir brauchen – ein drittes Feld – neue Spiritualität. Wenn ich nur mich gebe – in der Gemeinschaft der Güter wie in der Tradierung des Glaubens und Lebens -, gebe ich zuwenig, gebe ich nicht einmal mich. Die Quelle ist in mir tiefer als nur ich. Die Quelle ist dort, wo ich selber vom Wort geschaffen und neugeschaffen, in mein neues Sein hineingehoben bin, die Quelle ist dort, wo Seine Liebe mich von innen her „konstituiert“, ist dort, wo das in mir, was nicht einmal mir selber zugänglich ist, angenommen und geliebt ist von Ihm, der meine Schuld, mein Sterben, meine Grenze mit mir geteilt hat am Kreuz.

Doch solches Wort, solche Liebe, solches Leben vom Kreuz her reichen nicht nur hinter mein eigenes Tun und Wollen zurück, sondern reichen auch über meinen individuellen Horizont hinaus: Die Quelle, die in mir springt, springt zwischen uns. Wir erreichen unsere innere Einheit, unsere Identität mit uns nur, indem wir einander erreichen und in unserer Mitte den, der uns schon durch sein Wort, durch seine Liebe, durch sein Kreuz einsgemacht hat. Eine Spiritualität, in deren Mitte das miteinander gelebte und geteilte Wort, die gegenseitige Annahme im Maß und in der Kraft der Kreuzesliebe, die Begegnung mit dem je Nächsten steht, enthebt uns genauso einem Aufgehen im Aktionismus wie einem Sich-Ver-kriechen in die Nische einer selbstbezogenen [115] Innerlichkeit. Eine Spiritualität des Einsseins, eine je personale und je das Ich überschreitende Spiritualität prägen den Lebensstil aus dem Evangelium.

Und wo solche Spiritualität greift, ist sie eine Unruhe, eine Hoffnung, ein Band, die ökumenisches Unterwegssein zur Einheit vorantreiben und ermöglichen in einer Intensität, die der – notwendige – Disput allein nie erreicht.

Ein viertes Feld möchte ich umschreiben mit dem Wort: neues Leben. Spiritualität will sich inkarnieren, Geist, Heiliger Geist will Lebensgestalt prägen. Das aber geschieht nur, wenn der andere selbst mir und ich selbst dem anderen Geschenk werden, wenn wir zumal an unseren Grenzen und mit ihnen uns Geschenk werden. Es gibt nicht nur einen äußeren „Pflegenotstand“, es gibt eine Ortlosigkeit des Leidens und Sterbens, der Grenzen und Schwächen, aber auch der Dienste am Leben und am Leid der anderen, die durch ein noch so perfektes System von Versicherung und Versorgung nicht aufgehoben wären. Die einsamsten und die kostbarsten Erfahrungen ersticken, verdorren, verkommen, wo sie nicht geteilt, wo sie nicht ins Miteinander hinein aufgehoben werden. Sind auch die Kranken, sind auch die Fremden, sind auch die Einsamen in unseren Gemeinden unser gemeinsames Eigentum? Sind wir wirklich ein Leib, so daß, wenn ein Glied leidet, alle Glieder mitleiden, wenn ein Glied geehrt wird, alle anderen sich mit ihm freuen (vgl. 1 Kor 12,26)? Neuer Lebensstil heißt neues Leben, und neues Leben heißt neues Leiden und neues Helfen, in denen Ehrfurcht und Diskretion einerseits und Gemeinsamkeit und Austausch andererseits sich wechselseitig durchdringen und gewährleisten.

Die Solidarität im Teilen von Kraft und Grenze, die Solidarität im einen Leib, den wir miteinander bilden über alle Grenzen hinaus, hat ihren Raum in der Neuen Stadt. Leben braucht Räume, Lebens-Räume aber sind Räume für den je einzelnen und zugleich Räume füreinander. Gastfreundschaft, die von Grund auf verschieden ist von einem gegenseitigen „Vereinnahmen“, gehört zum Rhythmus christlichen Lebens. Im anderen Christus aufnehmen und den anderen wie Christus aufnehmen, das sind von den Ursprüngen her Kennmale eines spezifisch christlichen Lebensstils. Perichorese der Kulturen, Gastfreundschaft zwischen den Völkern, nicht Nivellierung des je Eigenen, sondern Offenheit des je Eigenen und Offenheit für den je anderen und das je andere werden uns heute förmlich aufgedrungen von den Notwendigkeiten weltweiter Nähe. Wir können das Himmlische Jerusalem, die Neue Stadt (vgl. Offb 20–22) nicht auf die Erde zaubern, aber gerade wenn wir auf sie als unverfügbare Zukunft zugehen, [116] kann sich unsere Stadt verwandeln, können Spur und Anfang der Neuen Stadt zwischen uns gelingen.

In der Neuen Stadt waltet ein neues Licht (vgl. Offb 21,23). In diesem neuen Licht, im Lichte des Lammes aber dürfen anfanghaft wir schon jetzt einander, uns selbst, die Welt sehen. Zum neuen Lebensstil gehört eine neue Weise des Sehens und Verstehens, eine neue „Weisheit“ hinzu. Ich sehe anders, wenn ich von dir her sehe, ich sehe anders, wenn ich von der Liebe Gottes, die bis ans Kreuz geht, her sehe. Ich bringe nicht alles auf Nenner und Formel, ich kann offenlassen und aushalten, aber gerade darin werden sich auch neue Zusammenhänge eröffnen, werden Zeichen der Zeit erkennbar, wird der rote Faden, die Führung, die Einheit, der Zusammenhang in der Geschichte, im eigenen Leben aufleuchten. Stopfen wir uns nicht oftmals voll mit Informationen und überlassen uns vorgeformten oder von uns her unkontrollierten Reaktionen? Im Miteinander sich selbst, den andern und die Welt verstehen, nach dem fragen, was der Geist den Gemeinden sagt (vgl. Offb 2,7), das erst ergibt die Kultur des neuen Lebensstils, seine innere Transparenz. Im Dialog, der kein Dialog der Unverbindlichkeit ist, sondern jener Verbindung, in welcher jeder Partner der Anfangende und Antwortende zugleich ist, erwächst die Alternative zu den Grundversuchungen der Ideologie oder des neutralen Bescheidwissens.

Wie von selbst erwächst aus einem neuen Denken, Sehen und Verstehen als siebtes Feld eine neue Kommunikation. Wir kehren an diesem Punkt zu unserem Anfang zurück: Wie kann in der Uniformität des Mediums Technik die Vielfalt der Kulturen gelingen? Wie kann diese eine Welt aus vielen Ursprüngen wachsen, ein Austausch geschehen, der nicht nivelliert? Wie gibt es eine Gleichzeitigkeit des Verschiedenen in einer umspannenden, aber nicht verkürzenden Einheit? Wir können auf diese Frage keine glatte Antwort geben. Aber in der Kirche und zwischen den Kirchen könnte eine neue Achtsamkeit wachsen auf die sieben knapp bezeichneten Lebensfelder. Weltweite Gütergemeinschaft – gegenseitiges Zeugnis, in einem Hören, dem jede Stimme wichtig ist – Hinlesen der vielen Spiritualitäten auf die eine Quelle, das eine Wort des Herrn, seine eine Liebe, seine eine Wunde, aus der er uns seinen Geist schenkt – Einheit in Not und Hilfe, Gemeinschaft im Mitleiden und Mithelfen – weltweite Gastfreundschaft als Anfang einer neuen Stadt mit Platz für viele, ja alle – Einheit des Denkens, der Mentalität, die aus dem gegenseitigen Hören und Zeugnis erwächst – und schließlich unablässige Bereitschaft zur Kommunikation, die im Hören auf den anderen durchhört auf das eine Wort, das in allen Worten dieser Welt sich uns zusprechen will: ich glaube, [117] wo wir in unserem konkreten Leben im Kleinen auf solche Weise dreifaltiges Leben buchstabieren, kann auch im Großen Gott die Zeit wenden.

Was habe ich in all diesen Überlegungen angesichts der drängenden Frage, die uns beschäftigt, anbieten können? Nicht mehr als jener kleine Junge, der ein paar Brote und Fische für den Hunger der Tausenden hatte (vgl. Joh 6,9). Aber er hat sie dem gegeben, der die Brotvermehrung vermag. Vielleicht gelingt solches Abgeben und Weitergeben uns im Nachdenken, Gespräch und Gebet.


  1. Vgl. hierzu: Die Fokolarbewegung. Entstehung – geistliche Grundlinien – Initiativen (München 1987). ↩︎