Einheit als Lebensstil

Einheit aus der Alternative des Evangeliums

Setzen wir von einer anderen Seite her an. Eine Welt ja, eine Geschichte ja – aber wo ist ihre Einheit? Heute leben wir. Wir sind in der einen Welt, wir haben unsere Erfahrungen, und ihre Summe und ihr Austausch ergeben das, was wir ein allgemeines Klima und ein allgemeines Bewußtsein nennen. Morgen sterben wir, andere rücken nach. Die Einheit der Welt zerfließt. Wo sind die Vielen? Es scheint, als vergingen die Subjekte, die sie tragen, ins Nichts. Wo hat die Einheit zwischen denen, die diese Petrikirche gebaut haben, und uns ihren Ort? Wodurch sind wir zusammengehalten? Wo sind wir miteinander eins? Wo ist die Identität der Erfahrungen von damals und heute präsent? Wo gibt es diese Einheit, die alles verbindet und gegenwärtig hält? Kann es sie überhaupt geben?

Ich glaube, daß es sie gibt und daß es sie gibt in einem menschlichen Herzen. Ich glaube daran, daß es Einheit gibt. Weil es Einen gibt, von dem alles stammt, in dem alles geschaffen ist und ohne den nichts geworden ist von dem, was geworden ist (vgl. Joh 1,3); und dieser Eine ist eingestiegen in die Geschichte. Er hat sie angenommen, ganz konkret in einem Menschenschicksal, in einer Menschenerfahrung, in einem Punkt dieser Zeit. Aber in diesem einen Punkt hat er uns alle angenommen, hat er kommuniziert mit allem Menschenschicksal. Er ist derjenige, in dem alles jenseits der Geschichte zusammengehalten ist, er ist das Wort, in dem alles geschaffen ist. Und dieses Wort ist Fleisch geworden, und dieses Wort hat sich mit uns einsgemacht (vgl. Joh 1,1–14), [107] ist Geschichte geworden und trägt die Geschichte in sich. Nicht in einem grandiosen Schauspiel, im Kunstgriff eines denkerischen Entwurfs, eines dialektischen Systems, sondern in der Solidarität des Ausleidens und Übernehmens aller Menschenwirklichkeit, im Hineinschreiben aller menschheitlichen Verlassenheit in sein Herz. Es gibt einen, der in jedem von uns sein Du hat, zu dem er sagt: Für dich! Jede und jeder von uns dürfen wissen: es gibt ein ganz persönliches Für-Dich Gottes, das gesprochen ist in Jesus Christus, der dich mit deiner Schuld, mit deinem Tod, mit deiner Spontanität, deiner Köstlichkeit, deinen Grenzen, deiner Gottnähe und deiner Gottverlassenheit übernommen hat. Und wenn ich auf ihn schaue, auf meinen Jesus, dann schaue ich auf deinen Jesus. Und dann schaue ich auf den Jesus derer, die diese Petrikirche gebaut haben, und auf den Jesus jener, die vielleicht einmal ihre Trümmer sammeln in Jahrtausenden. Wir sind eins in einem, der uns liebt. Wir sind zusammengehalten in einem, der mit uns allen solidarisch geworden ist. Es gibt in diesem Einen Einheit.

Diese Einheit gibt es sozusagen am untersten Punkt der Wirklichkeit, gibt es, weil dieser Eine sich von sich selbst entäußert hat, bis daß er „Nichts“ geworden ist (vgl. Phil 2,1–11), bis daß er seine eigene Verbundenheit mit dem Vater verloren hat (vgl. Mt 27,46), leer von sich geworden ist. Wir alle – so abgründig uns fremd, so weit weg voneinander, so zerbrochen, so gespalten wir sind in uns – finden uns hier in Ihm zusammen. Für mich ist das mehr als ein tröstlicher Gedankenüberbau. Für mich ist es Bedingung, um diese Welt lieben und in ihr leben zu können, um Hoffnung zu haben, daß diese Welt gestaltbar ist, und um zu erahnen, wie Einheit geht. Mein Herz ist gefordert, meine Existenz ist gefordert, meine Solidarität, die sich vor nichts verschließt, was ist. Nichts, was der Fall ist, kann nicht auch „mein Fall“ sein. Alles, was ist, muß mein Fall werden. Es gehört zu mir. Es geht unvertretbar mich an. Und nur, wenn wir in diesem Ausgehaltensein unserer Gespaltenheiten durch Ihn zugleich den Weg finden, uns voneinander aushalten zu lassen und gegenseitig auszuhalten, nur dann sind wir dort, wo Einheit menschlich und göttlich zugleich möglich ist.