Volk Gottes auf dem Weg

Einheit der Kirche

Die Vielheit der Gaben und Dienste, in denen sich die eine Sendung der Kirche vollzieht, und ihre Wendung über sich selbst hinaus zum Dienst an der Welt, sind Ausfluß des einen Wesens der Kirche, der Liebe, die uns der Herr aufgetragen und geschenkt hat. Auftrag und Geschenk seiner Liebe bergen in sich jedoch noch eine Tiefe, die für die Kirche entscheidend ist und die bislang erst mittelbar zur Sprache kam.

Die apostolische Ermahnung, ja das Sprechen des Herrn selbst im Johannesevangelium erhalten in einem einzigen Fall immer wieder einen unverwechselbaren Klang der Eindringlichkeit und Feierlichkeit: dort, wo es sich um die Einheit der Gemeinde, um die Einheit der Glaubenden in der einen Kirche handelt (vgl. z. B. Joh 17,21–23; Joh 10,16; Joh 11,52; 1 Kor 1,10–17; 1 Kor 10,17; 1 Kor 11,17–34; 1 Kor 12–14; Eph 2,14–22; Eph 4,1–16; Phil 2,1–11).

Es ist aus praktischen Gründen leicht einzusehen, daß das Thema kirchlicher Einheit in den ersten Jahrzehnten nach Ostern eine besondere Dringlichkeit hatte. In der religiös aufgewühlten Atmosphäre der damaligen Zeit mit ihren vielartigen Strömungen und Richtungen, mußte die Botschaft des Evangeliums hineingezogen werden in eine Bewegung des Vergleichens und Diskutierens, welche die Einheit der Kirche gefährden, Parteiungen schaffen, das Wort umdeuten konnte. Der starke Impuls zur Freiheit in der ursprünglich verstandenen christlichen Botschaft, konnte, bei den oft starken Erfahrungen verschieden­artiger Geistesgaben in der Gemeinde, zudem wie „Sprengstoff“ wirken. Angesichts dessen versteht es sich, daß die apostolische Sorge um die Einheit aller im einen und reinen Wort kreiste. Doch was zum Thema Einheit gesagt wurde, reicht in seiner Tiefe hinter [32] alle pragmatischen Anlässe zurück, legt offen, daß es dabei um die eine und wesentliche Mitte des Ganzen geht.

Es sei nur an zwei Texte erinnert, die dies besonders eindrücklich zeigen: Im Philipperbrief (2,1–11) wird der ganze Einsatz apostolischer Ermahnung, alles Werben und Beschwören, dessen Paulus fähig ist, aufgewendet für die Einheit des Denkens, Sinnens und Handelns unter den Christen. Jeder soll den anderen höher einschätzen als sich selbst. Warum? Weil jene Gesinnung lebendig bleiben muß, in welcher Jesus in radikaler Selbstentäußerung, im Gehorsam bis zum Tod, den Vater „größer“ sein ließ als sich. Die Einheit des Sohnes mit dem Vater, sein Sich-Weggeben an seinen Willen, das ist der Grund christlicher Existenz, und er muß auch das Leben der Gemeinde tragen. Er trägt es, indem die Glieder der Kirche ihre gegenseitige Beziehung unter das Maß der Beziehung des Sohnes zum Vater stellen. Zwischen uns muß sich ereignen, was sich zwischen Vater und Sohn ereignet hat. Das innerste Geheimnis Gottes, die Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn, ist Lebensinhalt der Kirche, wird durch die Kirche Inhalt zwischenmenschlichen Geschehens, wird in der Kirche „Geschichte“.

Genau dasselbe, in letzter Radikalität, sagt Jesus im hohenpriesterlichen Gebet (Joh 17,21–23). Die Einheit, die zwischen ihm und dem Vater sich ereignet, erbittet er für die Seinen, für alle Seinen, ausdrücklich auch für jene, die erst durch die apostolische Verkündigung zum Glauben kommen. Erst das ist wahrhaft „seine Liebe“, mit der wir einander lieben sollen: die Liebe, mit der ihn der Vater liebt und er den Vater liebt. In der Tat, deshalb ist das Wesen der Kirche Liebe, weil Gott selbst Liebe ist.

Kirche als Volk Gottes, das erhält hier seine entscheidende und tiefste Begründung: Deshalb hat es Gott gefallen, die Menschen nicht ohne gegenseitige Beziehung zu erlösen (vgl. Konstitution über die Kirche Nr. 9), weil in der gegenseitigen Beziehung, die uns zum Volke Gottes bindet, jene Beziehung lebendig und in der Welt sein soll, die in Gott selbst als sein Leben ist, die absolute Einheit zwischen Vater und Sohn.

Diese Einheit ist freilich, bloß menschlich betrachtet, unbegreiflich, ja beinahe widersinnig. Warum sollen wir uns in dieser letzten Auslieferung aneinander binden, in welcher der Sohn sich an den Vater band bis hin zur Verlassenheit am Kreuz? Wieso können wir einander im Innersten und Eigensten unseres Daseins nicht ausweichen? Weshalb kann es nicht genügen, einander in Anstand und Einsatzbereit- [33] schaft zu akzeptieren? Nur wer den Glauben daran radikal ernst nimmt, daß wir und daß alle in der Liebe zwischen Vater und Sohn mitgeliebt sind, nur der Glaube daran, daß im Tod Jesu der Vater seine Einheit mit dem Sohn geöffnet hat, um uns Menschen hineinzunehmen in diesen innersten Lebenskreis Gottes, nur der sieht: Es ist unausweichlich, diese Liebe, diese Einheit zum Inhalt unseres eigenen Lebens zu machen! Nur der sieht: So sehr dieses Leben der Einheit Aufgabe des gängig Menschlichen bedeutet, so sehr ist es doch erst die Befreiung und Vollendung des Menschlichen zu sich selbst. Diese Aufgabe des Eigenen und Gewohnten, die uns dem Glauben an die persönliche Liebe Gottes erwächst, ebnet die eigene Persönlichkeit nicht ein ins Kollektiv, macht mich nicht zum Funktionär einer Ideologie, sondern gerade zum Partner Gottes und zum Partner der anderen. Und niemand, der dies sieht, wird eine solche Einheit verwechseln mit billigem Konformismus, mit bloßer Disziplin, mit kirchlicher „Staatsräson“.

Diese Einheit ist das „Unverständlichste“ an der Kirche, und doch ist sie das Notwendigste, gerade heute und mehr noch morgen. Nicht nur weil wir im Zeitalter des Ökumenismus leben. Auch er hat zweifel­los hier seine innerste Wurzel. Auch er hat hier sein Maß: Es geht weder um eine Glättung konfessioneller Unterschiede noch um eine bloße Toleranz oder Kooperation; es geht darum, in der totalen Treue zur Botschaft Christi die Spannung auszuhalten aufeinander zu, bis der Vater die Einheit, die ganze, konkrete, reale Einheit schenkt. Heute und morgen ist die Einheit deshalb so wichtig, weil die Welt nur dann glauben kann, wenn wir eins sind. Denn so wenig diese Einheit von außen verstanden werden kann, so sehr wird doch in ihr erst jene Liebe offenbar und lebendig, welche die Welt von uns for­dert. Und erst in der Liebe, die solchermaßen Einheit ist, kann sie eine Liebe erkennen, die wahrhaft mehr bedeutet als bloß perfekte Humanität. Zuerst verkündet jenes Heil, das die Welt sich nicht selber geben kann und auf das sie doch wartet, ob sie es weiß oder nicht. Erst in solcher Einheit sind wir so in Jesu Namen versammelt, sind wir so mit ihm und in ihm das neue Gottesvolk, daß er selbst lebendig und geschichtlich wirksam in unserer Mitte ist und der Welt sich bezeugt (vgl. Mt 18,20).