Einheit als Lebensstil
Einheit: Not und Notwendigkeit unserer Zeit
Es ist eine Ironie der Wirklichkeit und des menschlichen Denkens, daß „Einheit“ keinen einheitlichen Klang hat, daß es nicht eindeutig ist, was das Wort Einheit meint. Mancherlei Verdacht klebt an diesem Wort. Wir denken an Einheitsparteien, wir denken an „Einheitslösungen“, wir denken an Einheit als einen Zugriff und Begriff, die den Reichtum der Wirklichkeit, der in ihrer Vielfalt zum Ausdruck kommt, banalisieren und reduzieren, um ihn eben „in den Griff“ zu bekommen. Einheit – steht das nicht gegen jene Freiheit, die das Geheimnis in vielfältigen Gestalten wahrnimmt und ihm nur in der Vielfalt dieser Gestalten als dem je Größeren gerecht wird? Und doch, wir brauchen Einheit. Unser ganzes Jahrhundert ist ein Schrei nach Einheit. In einer Welt, in welcher wir erkennen, wie deutlich alle von allen abhängen, in einer Welt, in der wir alle einander erreichen und aufeinander hören und miteinander leben müssen und füreinander die Bedingungen des Lebens festlegen: wie sollen wir da leben, ohne daß wir miteinander Einheit haben?
Wir leben einfach in der einen Welt. Und so problematisch das ist und so viel das an Fragen und Krisen mit sich bringt, es ist eine Gnade und ein Anruf dieses Jahrhunderts, daß es diese eine Welt gibt. Wenn wir einmal hineinschauen in die großen Bewegungen, die im Umkreis der Kirchen dieses Jahrhundert geprägt haben, es sind immer und immer wieder Bewegungen auf Einheit hin: die ökumenische Bewegung, die Bibelbewegung, die liturgische Bewegung, die Jugendbewegung. Immer und überall steckt dieses Ideal eines Miteinander, einer neuen Kommunikation, einer neuen Nähe zu den Ursprüngen, eines Einsseins aus den Ursprüngen drinnen. Einheit muß sein. Aber welche Einheit?
Einheit muß sein, das erfahren wir auch mehr und mehr, wenn wir auf uns selber, wenn wir in den Spiegel schauen. Wer bin denn ich? Wie erfahre ich mich? Wie ist mein Leben? Es ist nicht zusammengesetzt aus lauter Schichten und Stücken. Wir haben ein unheimlich aufgespaltenes Gesicht. Wo finde ich den roten Faden, der mein Leben eint? Wie kann ich das, was ich glaube, und das, was ich tue, wie das, was ich bin, [104] und das, was ich erlebe, zusammenknüpfen? Wie kann ich in diesen Brüchen, in diesen wechselnden Rollen, in denen ich mich erlebe, in diesen unterschiedlichen Ansätzen, die sich queren in mir jeden Tag, ein Einer sein? Wie fremd wird dieses Wort „Ich“! Und je mehr wir auf diesem Wort bestehen, desto mehr spüren wir die Not, daß wir es nicht erreichen, das Viele, was unter dieses Wort fällt, wirklich zusammenzubringen in einen einzigen Vollzug, in ein einziges Leben hinein. Und wie abgründig erfahren wir in dieser nach Einheit drängenden und der Einheit bedürfenden Welt doch auch die Spannung, ja die Fremde zwischen uns. Wenige Beziehungen halten heute. Wir sehnen uns nach Geborgenheit bei einem, in dem wir ganz dasein können – und wie schnell ziehen wir uns enttäuscht zurück. Wie rasch zerbricht Beziehung! Und da wir nur eine Welt sind, eine Gesellschaft, ein Vaterland und ein Europa, welche Gegensätze sind da zusammengespannt und welche Angst haben wir da voreinander! Einheit – wichtig, notwendig. Aber noch einmal: Welche Einheit?
Dieses Jahrhundert hat eine Reihe schrecklicher Modelle von Einheit hervorgebracht. Da ist die Einheit der Ideologie. Ein Konzept von oben, das vorschreibt, was sein kann und sein darf und was nicht. Und wenn die Wirklichkeit diesem Zugriff einer Ideologie unterworfen wird, was geschieht dann? Wir haben es erfahren. Ist die Alternative dazu aber nur jener Markt, der Einheit im scheinbar toleranten Spiel von Angebot und Nachfrage regelt? Doch können so vom Ergebnis her wahrhaft alle als sie selbst am Einen und Ganzen gestaltend Anteil nehmen? Oder stellen wir vielmehr im bloßen Markt der Möglichkeiten und Meinungen etwas wie eine faktische Gewalt fest, die nur manche Modelle überleben läßt und andere nicht? Und bleiben nicht, wenn die Einheit nur der Markt der Möglichkeiten ist, letztlich die Einsamkeit und die Fremde zurück? Auskommen mit dem anderen, aber dieses Auskommen als ein Nicht-Hinauskommen über sich selbst? Weder das bloße Nebeneinander, das sich von selber her reguliert und in einem bloßen Laisser-faire geregelt wird, weder die bloß formale Regelung der Einheit noch der ideologische Zugriff kann Antwort sein. Wo finden wir Einheit?
Es ist eine Grund- und Lebensfrage.
Um zu verstehen, warum diese Frage nach der Einheit in unserem Jahrhundert und in unserer Zeit so bedrängend geworden ist, wollen wir einen Blick in die Geistesgeschichte wagen. Er wird, wenn man ihn nur knapp faßt, verzerrend ausfallen. Ich versuche ihn trotzdem; ich selber habe viele Fragen an eine solche Formalisierung dessen, was neuzeitlicher Geist ist, wie ich sie jetzt vornehme. Dennoch, glaube ich, ist es gut, eine Linie herauszugreifen. Unsere europäische Neuzeit [105] erwächst aus einer langen und großen Geschichte, jener Geschichte, der wir so herrliche Räume wie diese Petrikirche in Lübeck verdanken. Die Einheitsstiftung geschah aus Tradition, aus Weitergabe von Lebensinhalten, Glaubensinhalten und Verhaltensmaximen. Aber diese Einheit wurde allmählich fragwürdig und zerbrach. Wie die in allem Reichtum doch klaren Formen der hohen Gotik in der Spätgotik sich zersplitterten, so lösten sich im Kontext spätmittelalterlicher Philosophie die Einheiten der Begriffe auf in ein artistisches Netzwerk – und ein verunsichertes Fragen, was überhaupt Begriffe leisten können und was nicht. Die Einheit brauchte sozusagen eine Rückversicherung, die nicht nur aus der Tradition erfolgt. Und das Denken fand sich an sich selbst als Instanz zurückverwiesen. Es kam die Kehre von der Tradition zum Subjekt, das rational seine Welt und das Dasein und alles zu rekonstruieren, ja mehr und mehr zu konstruieren vermochte. Das ist eine grandiose Leistung, hinter die wir nicht zurückkönnen. Ich bin fasziniert vom keineswegs die Tradition aufheben, sondern sie neu begründen wollenden Versuch eines René Descartes, aus dem Ich, aus dem Subjekt die Welt sozusagen herauszuentwerfen und eine Einheit dem einzustiften, was ist. Die Entwicklung des Denkens trieb indessen weiter bis dahin, daß die Welt als bloßer Entwurf des Denkens erschien, dessen Herr dieses Denken selber ist. Was aber sind dann jene, in denen dieses Denken geschieht? Sie sind selber Punkte im von ihnen ausgehenden System, gewissermaßen von ihm, das sie entwerfen, selber entworfen und bemessen und so ihrer Originalität bar. Sie stehen nicht mehr in der Unmittelbarkeit zueinander, sie können nicht mehr sich beziehen aufeinander, sie können nicht mehr in das Wunder des anderen einsteigen, daß er von sich selber her aufgeht und sich von sich selber her schenkt, sondern sie sind letztlich die Unterworfenen unter die Sachzwänge der Rationalität, der sie sich und alles verdanken.
Innerhalb dieser neuzeitlichen Rationalität ist es gelungen, unsere technische Kultur zu entwerfen, die ich keineswegs schelten oder eliminieren will. Wir brauchen sie. Aber wenn sie von sich aus das Modell des Lebens wird, wenn sie nicht mehr nur ein Vehikel bleibt zur Kommunikation, sondern schier die lebendige Kommunikation ersetzt, dann bleibt als einende Macht entweder nur die Ideologie oder der Apparat oder aber jene markt-hafte „Selbstregulierung“, die dann doch wiederum Ausdruck des Systems ist.
Wir brauchen eine Alternative. Welche Einheit? Wir können nicht auf die neuzeitliche technische Kultur verzichten, wir wollen es nicht; aber sie allein genügt nicht. Auf der einen Seite verdanken wir dieser technischen Zivilisation, daß wir eine Welt sind, daß wir weltweit miteinander kommunizieren. Zugleich brauchen die vielen Völker, um in [106] dieser Welt überleben zu können, jene Güter, welche die Technik produziert, und jene Fortschritte, die dies ermöglichen. Aber werden die Völker nicht zugleich durch diese eine technische Kultur in ihrem je Eigenen sich entfremdet? Braucht die Menschheit nicht die Vielfalt der Kulturen, die eben gerade nicht sie selber sind, wenn wir sie dem Diktat unserer technischen Zivilisation unterwerfen?
Vielleicht deutet sich uns hier eine vorläufige Spur an, die weiterführt. Gerade durch die technische Kultur treten wir in die Kommunikation aller mit allen, aber in dieser Kommunikation darf nicht das technische Medium Inhalte und Formen bestimmen, sondern es tut not, daß wir neu und unmittelbar hören lernen auf die unterschiedlichen Stimmen. In diesem Hörenlernen aber, in diesem Zulassen der noch nicht „einzuordnenden“ Stimmen und Stile kann Dialog gelingen, und in diesem Dialog selber vermag Einheit neu und anders zu werden. Das ist eine Spur. Und doch frage ich: genügt sie?