Theologie als Nachfolge
Einheit und Unterscheidung der Ansätze
Wie lassen sich das Verhältnis von Theologie und Philosophie, ihr Ort und ihre Funktion vom einen Ansatz bonaventuranischen Denkens her in knappen Zügen darstellen? Sowohl Theologie wie Philosophie setzen an bei einer Vorgabe, die nicht in eigene Konstruktion und Aktion aufzuheben ist. Genauer besehen, ist diese Vorgabe selbst jeweils eine Struktur, die drei Momente zugleich umfaßt: Zum einen ist der Inhalt, ist die Sache, um die es im Glauben oder im Denken geht, nicht vom Glauben oder vom Denken entworfen, sondern dem Glauben oder Denken gewährt. Der Seinsbegriff ist für Bonaventura nicht eine Leistung der Abstraktionskraft, der tätigen Vernunft (des intellectus agens) und wiederum – darauf wird später zurückzukommen sein – der Durchstoß vom Sein zu Gott nicht das Resultat nachträglicher Reflexion, vielmehr fängt Philosophie für Bonaventura an mit der Gegebenheit des Seins und mit deren Durchsichtigkeit auf den Ursprung, auf Gott hin.1 Zugleich aber, und dies ist das zweite Moment, ist im Fall des Glaubens wie in dem des Denkens nicht nur die „Sache“, sondern auch die Fähigkeit, die Offenheit zur je eigenen Sache Gabe. Wenn er im Fall der Gotteserkenntnis einerseits ihre Unausweichlichkeit und andererseits die Disproportionalität des Gegenstandes zur menschlichen Kraft betont und eigens die Mitteilung der Kraft erwähnt, die den Menschen fähig macht, Gott zu ertragen,2 so ist man vom Philosophischen her an das theologische Verhältnis zwischen dem unbedingten Anspruch des Offenbarungswortes und dem gnadenhaften, geschenkhaften Glaubenslicht erinnert, das allein den Glauben an dieses Offenbarungswort ermöglicht. Drittes Moment: Sosehr auf beiden Seiten des Glaubens- und Erkenntnisprozesses die Gabe führend ist, sowenig bedeutet dies doch eine [57] Reduktion der Spontaneität, der Aktivität, der Freiheit des glaubenden bzw. denkenden Subjektes. Nicht nur der Glaube braucht seine Disposition, die Philosophie braucht auch die ihre und braucht sie als Disposition der ganzen Existenz.3
Die Parallelität zwischen Glauben und Denken, entsprechend zwischen Theologie und Philosophie, die jeweilige Koinzidenz des Ansatzes von oben und von unten ebnet aber nicht den Unterschied zwischen Theologie und Philosophie ein. Die Tiefe und der Sinn dieses Unterschiedes enthüllen sich im Blick auf den genetischen Zusammenhang. Die Gaben Gottes, die Glaube und Denken, Theologie und Philosophie konstituieren, haben ihre Geschichte. Der Sinn des Ganzen, das Ziel des Ganzen werden im Glauben, in der Theologie offenbar: Gott will, über alles Erdenkliche hinaus, sich selber dem Menschen schenken, ihn hineinnehmen in die innigste Einung mit sich. Dieses Ziel läßt sich nicht aus dem Menschsein und seiner Verfaßtheit, aus dem Denken und seinen immanenten Gesetzen herausrechnen, es ist reine Mitteilung, reines Wort der Selbsterschließung Gottes. Und doch „braucht“ dieses Ziel seine ihm zugeordnete Voraussetzung: die Gabe Gottes braucht den Empfänger und seine Offenheit zum Empfang. Die höchste Einung mit Gott setzt ein Wesen voraus, das in seiner Konstitution fähig ist, Gott als Gott aufzunehmen, sich auf ihn hinzuorientieren. Offenbarung braucht den Glauben, aber Offenbarung und Glaube brauchen das Organ des Denkens, in dessen Sichtweite der Gott tritt, der in der Offenbarung sein Inneres aufschließen will, auch wenn das Denken selbst nochmals einer besonderen Erleuchtung bedarf, um die Offenbarung glauben zu können. So sind Denken und Philosophie, im Ganzen betrachtet, Vorgeschichte von Glaube und Offenbarung, wobei aber die „Geschichte“, zu der sie Vorgeschichte sind, das Eigentliche, das Maßgebliche, recht verstanden: das erste ist. Denken und Philosophie als Voraussetzung von Glaube und Offenbarung sind von Anfang an, von ihrer Konstitution her auf dieses Ziel hin zu lesen, nicht aber sind Glaube und Offenbarung nur ergänzender, zufälliger Zusatz. Der ungeschuldete, unselbstverständliche Charakter, der sich mit Größe und Radikalität der Gabe je [58] steigert, kann freilich den Anschein des Nachträglichen erwecken. Dennoch: im Sinne Bonaventuras können Offenbarung und Glaube gerade nicht ins Denken und in die Philosophie hinein integriert werden, sondern der Weg der Integration läuft umgekehrt – und so wird plausibel, wieso bei Bonaventura Philosophie im größeren Rahmen, im umgreifenderen und „früheren“ Ganzen der Theologie ihr Recht und ihren Ort hat. Allerdings ist die gezeichnete Struktur noch nicht die ganze Geschichte der Gaben, die im Verhältnis von Philosophie und Theologie ineinanderspielen. Wir streiften bereits die Bedeutung der Sünde als Entstellung der ursprünglichen Ordnung. Wenngleich in der Folge der Erbsünde nach Bonaventura der Mensch die grundsätzliche Offenheit des Denkens zu Gott nicht verloren hat, so ist doch auch Philosophie, Vollzug des auf sich selbst gestellten Denkens, dadurch betroffen, daß das Denken aus dem lebendigen Verbund von Natur und Gnade herausgebrochen, isoliert ist. Sofern Denken Denken ist, kann es für Bonaventura mit nichts anderem als mit Gott anfangen, auf nichts anderes als auf Gott tendieren. Aber gerade diese Identität des Denkens mit sich selbst ist gefährdet, wo die Disposition des Denkenden beeinträchtigt ist. Das Woraufhin des Menschen, zu dem er liebend, wollend sich verhält, prägt auch die Sehkraft und Sehweise des Denkens. Aufgrund der Sünde hat in der Tat Theologie auch eine „nachträgliche“ Funktion für die Philosophie; erst im Kontext der Restitution durch die Gnade holt das Denken seine anfängliche Konstitution wieder voll ein. Das bedeutet nicht Ersatz der Philosophie durch Theologie, aber Klärung der Philosophie und des Denkens durch Theologie und Glaube. Doch auch abgesehen von der heilenden Kraft der Offenbarung und des Glaubenslichtes fürs menschliche Denken und seinen Zugang zur Wahrheit, kennt Bonaventura eine Vollendung der Philosophie durch das, was dem Denken aus Eigenem, was der philosophischen Bemühung als solcher unzugänglich ist. Wenn Bonaventura philosophische Denkfiguren z.B. bis dahin treibt, daß das Geheimnis des dreifaltigen Gottes als die Vollendung der in Welt und Denken angelegten Vollkommenheit, als die Radika- [59] lisierung des vom Denken insgesamt Intendierten erscheint, dann weiß er zugleich, daß solche Konsequenz des Denkens nicht aus diesem selbst, sondern nur aus der Gegebenheit von Offenbarung zu gewinnen ist.4 Integration von oben, Diskontinuität von unten, solche Diskontinuität aber gerade als Ort des Aufgangs jenes unselbstverständlichen Überschusses, den das Oben schenkt, indem es sich selbst schenkt: dies ist die am Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Bonaventura abzulesende Präzisierung seines Modells für den Ansatz theologischen Denkens.
Was über die funktionale Zuordnung von Philosophie und Theologie und über die Bedeutung von Erbsünde und Erlösung für die Philosophie ausgeführt wurde, kann nicht ohne weiteres als ausschließlich oder spezifisch bonaventuranisch reklamiert werden. Typisch für ihn ist jedoch: die parallele Konstitution von Philosophie und Theologie durch einen Ansatz von oben, welcher den Ansatz von unten mitumfängt, ohne daß Philosophie und Theologie aufeinander reduziert werden und ohne daß sie bloß nebeneinander stehenbleiben. Vielmehr wird die der Theologie entsprechende Struktur der Philosophie in jene Ganzheit aufgenommen, die in der Theologie aufgeht und von ihr her das Eigene der Philosophie wahrt, integriert und über sich selbst hinaushebt.