Das unterscheidend Eine
Einheit und Vielheit
Es ist eine Botschaft, die im Neuen Testament und entsprechend im Glauben der Kirche enthalten ist, aber diese eine Botschaft liegt je nur in Vielgestalt vor. Und dies ist kein Defizit, sondern ein Wesenscharakter dieser Botschaft und der Einheit, die sie ansagt.
Die Vielfalt der Theologien, in denen die eine Botschaft des Neuen Testamentes vorkommt und sich verfaßt, offenbart in sich das Eine, um was es in der definitiven und umfassenden Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus geht. Diese läßt nicht einfach die Vielfalt von Denkweisen unberührt und unverbunden stehen, sie schlüpft nicht unbesehen in bereitliegende Kleider hinein, sondern ist Provokation, die Götzenbilder – auch Götzenbilder aus Begriffen (vgl. Gregor von Nyssa) – zertrümmert, Denkweisen umkehrt, Vorstellungen und Ideen unterscheidet und entscheidet; aber sie ist in dieser krisis, die sie heraufführt, zugleich Wort an die Worte und Wort in den Worten. Das Wort Gottes hätte ohne die Menschenworte nichts, wohin es sein Haupt hinlegen könnte auf dieser Erde, um mit uns zu wohnen und unter uns zu sein. Gottes Wort macht sich bedürftig des Menschenwortes, weil es sich unter Menschen für Menschen ausdrücken will. Und mehr noch: es will, die Worte zur inneren Entscheidung führend, sie zugleich erlösen und einlösen, ihren inneren Advent aufdecken und erfüllen. So aber produziert es nicht eine Einheitssprache, sondern eine Einheit zwischen den Sprachen, eine Einheit des Gesprächs, in dem die vielen Sprachen herausgefordert werden, im Hören auf die Botschaft selber neu und anders zu werden, darin aber ihren „neuen Namen“ zu vernehmen. Aus dem Gespräch der Sprachen, der Unterscheidung der Gedanken, dem in Annahme und Weitergabe des Wortes sich ereignenden Geschehen von gegenseitiger Annahme und Hingabe der Sprachen erwächst dann freilich die Konkretion des gemeinsamen Bekennens in der gemeinsamen Aussage. Diese gemeinsame Aussage ist aber nicht vollendete Endgestalt, die das Wort ausschöpfte und auf seinen einen Nenner brächte, so daß weiteres Gespräch, weiteres Fragen und Gestalten überflüssig würden. Symbola, Dogmata, Lehrentscheide drücken verbindlich das Bleibende und Endgültige des Wortes aus; sie tun es aber in der Weise, daß Übersetzung und Aussetzung an neue Fragen und neue Weisen des Denkens und Sich-Ausdrückens aktuell bleiben. Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür bietet gerade jene Neuausgabe des Denzinger, die Peter Hünermann als eine theologische Arbeit hohen Ranges geleistet hat.
[353] Das Problem der Einheit in der Vielheit war seit den Anfangszeiten christlicher Geschichte kaum mehr je so aktuell wie heute: Wir leben in der einen Welt, die zerfiele, wenn ihre Vielfalt in Ideologien oder technologischen Pragmatiken oder bloßen „Marktgerechtigkeiten“ nivelliert würde. Sie kann nur als eine Welt gelingen, wenn die Vielfalt der Sprachen und Kulturen weder in einer von innen oder außen verordneten Einheitskultur untergeht noch in museale Ghettos zurückgedrängt wird, zwischen denen dann eben doch eine technische, funktionale oder marktmäßige Gleichschaltung geschähe statt eines zugleich verändernden und bewahrenden Gesprächs.
Diese Weltsituation ist zugleich und in besonderem Ausmaße „Kirchensituation“. Auflösung der gesamtkirchlichen Einheit in sich tolerierende Sonderwelten, in den Archipel unter sich beziehungsloser Inkulturationsinseln wäre genauso verfehlt wie das Rückschneiden der sprachlichen und kulturellen Vielfalt im Ausdruck des Glaubens auf diverse, in verschiedenen Sprachen etikettierte Verpackungen. Das eine Wort erhellt kritisch die vielen Worte, nimmt sie zugleich liebend auf, vertraut sich ihnen mutig an und wahrt so die Kostbarkeit der vielen Worte gleichermaßen wie das Bewußtsein, daß sie nur im Einen ihre Wahrheit haben und dieses Eine je größer ist als sein Ausdruck. Nur so kann die Aufgabe glücken, die uns heute um der Botschaft und um der Welt willen zugleich gestellt ist.
Dabei ist der Dienst der Einheit durch das kirchliche Amt bis hin zum Petrusamt tragend und wichtig, nicht als Ablösung des Prozesses von Dialog und Inter-Inkulturation (um ein Wort von Chiara Lubich aufzugreifen), sondern als Gewähr des „Zusammenhörens“ und des Zusammengehörens aller: mit dem Ursprung, miteinander, mit dem – diachron und synchron – Ganzen.
Wie aber kann solch fälliger Dialog, solch fällige gegenseitige Krisis, Annahme und Hingabe geschehen? Wo „ist“ jene Einheit, die größer ist als alle ihre Gestalten und deswegen Vielheit einschließt, gleichwohl in aller Vielheit aber eine einende Gestalt vermag?
Es heißt gerade nicht: die Orthodoxie auf Orthopraxie zurückdämmen, wenn hingewiesen wird auf den einen und selben Vollzug der gegenseitigen Liebe, wie der Herr uns geliebt hat, des gegenseitigen Sich-Annehmens, wie er uns angenommen hat, des gegenseitigen „Allen-alles-Werdens“ im Sinne des Paulus. Sich freimachen von seiner nur eigenen Kultur, unverstellt auf das Evangelium hören und so gerade auch unverstellt auf das hören, was der andere zu sagen und zu geben hat: dies ist Vollzug des Paschageheimnisses von Todeshingabe und Auferweckung, der Menschwerdung, ja des Einsseins nach Maß und Sinn der trinitarischen Einheit. Diese Grundmysterien sind da, indem wir sie leben. Sie erschöpfen sich nicht darin, daß wir sie leben; sie können nicht durch unser Leben „ersetzt“ werden. Sie können aber nur in unserem Leben – in communio – ein Zeichen finden, so daß sie in die Vielfalt heutiger Lebens- und Verstehenskontexte [354] hinein sprechend werden. Es braucht etwas wie eine „soziale Ikone“ des Evangeliums, Kirche als „aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes geeintes Volk“ (LG 4), damit in der Vielfalt der Sprachen die Einheit gelinge und sich vollbringe, damit in der notwendigen und verbindlichen einenden Gestalt die Vielfalt leben und sich als Fülle der Einheit erweisen kann.
Es wäre nützlich, am Ende dieser Überlegung einfach nochmals den Text aus der Habilitationsschrift von Peter Hünermann zu lesen, der diesem Beitrag vorangestellt ist.