Einheit als Lebensstil
Einheit – wie geht das?
Einheit der Welt, Einheit des Lebens aus der Alternative des Evangeliums: wie geht das?
Es scheint mir, wenn ich diese Frage ernst nehme, gemäßer zu sein, hier eine persönliche Mitteilung zu machen als eine bloß objektive Erwägung anzustellen.
[108] Hintergrund dafür, daß Einheit ein Grundthema meines Lebens wurde, war eine Spannung, in die ich schon früh hineingeriet. Mein Elternhaus war und blieb mir ein kostbares Geschenk; es war geprägt vom gelebten Widerspruch gegen die Ideologie des Dritten Reiches. Durch meinen Vater, der Künstler war, und seine Freunde erhielt ich Zugang zu Zeugnissen und Erfahrungen, die mir die Wirklichkeit des Geheimnisses, der Botschaft, des Christlichen tief in die Seele brannten. Doch zugleich griff ich nach philosophischen Büchern, deren kritischen Einwänden gegen den Glauben ich als Junge nicht gewachsen war. Es kam zu einem langen Ringen, bis für mich das Problem verantworteten Glaubens eine tragfähige Lösung fand. Ich möchte hier nicht diese Spannung als solche thematisieren und jene Erfahrungen und Gedanken benennen, die mich schließlich auch mir selber Rechenschaft geben ließen über die Hoffnung, die in uns ist (vgl. 1 Petr 3,15). Wohl aber scheint mir bemerkens- und berichtenswert, daß die entscheidenden Schritte auf diesem Weg für mich verbunden waren mit der Frage nach Einheit.
Bedeutsam wurde mir eine Vorlesung, die ich als junger Student hörte. Ein neutestamentlicher Exeget sprach über die Herrschaft Gottes. Dabei ging mir auf, daß die Ansage der Gottesherrschaft durch Jesus (vgl. Mk 1,15) ein Gottesereignis, eine Neuheit im Bild Gottes schenkt (Neuheit im qualitativen, biblischen Sinne des Wortes), die ich noch gar nicht in meinem persönlichen Denken eingeholt hatte. War nicht der Gott, um den es mir bislang ging, insgeheim viel eher der Gott der Spitze, der Gott des Horizontes, der Gott der Anfänge und des Endes, aber nicht jener lebendige Gott, der alles in allem (vgl. 1 Kor 15,28) ist? Der Gott jedoch, der in Jesus Christus seine Herrschaft und so sich selber ansagt, ist jener, der mitten hineindringt in mein Leben, von der Peripherie in die Mitte. Er setzt in jedem und allem, was mir begegnet, mich in Beziehung zu sich selbst, beschenkt mich mit sich selbst und nimmt mich als mich selbst in Anspruch. Es war mir, als ob Gott von der Kirchturmspitze auf den Marktplatz, vom Altar ins Kirchenschiff, von den Konklusionen in die Prämissen meines Daseins gesprungen wäre. Es gab eine neue Unmittelbarkeit und Einfachheit im Verhältnis zu Ihm und Seinem Wort. Nicht im Sinn eines fundamentalistischen Griffs, mit dem ich diesen Gott bewältigen könnte, nicht im Sinn eines Drucks, der mich nicht losließe und freigäbe, ganz im Gegenteil: im Sinne eines offenen, unabsehbaren und unabschließbaren Lebensraumes, in dem aber das Wort eine ungeheuerliche Neuheit und Überraschung bedeutet, das formal doch eine Selbstverständlichkeit aussagt: „Gott ist Gott!“
Das war natürlich weit mehr als ein Gedanke, es war der Aufriß einer [109] neuen Lebensperspektive, in der wahrhaft alles in Zusammenhang mit Gott und dadurch in Zusammenhang miteinander, in eine neue Einheit trat. Und doch war diese Erfahrung wie eingeschlossen in den Gedanken, ein Impuls, der nicht von selbst sich in neues Leben übersetzte. Und aus der hinter dem Gedanken zurückbleibenden Alltäglichkeit, aus dem Spalt zwischen Botschaft und Leben blieb ein Schwebezustand, in den sich doch wieder die Unsicherheiten einnisteten; die Spaltung in mir war infolge dieses Spaltes noch nicht ausgeheilt.
Ein weiterführender Schritt erfolgte wenige Jahre hernach, als ich blitzartig erkannte: Ich kann die Einheit in meinem Denken, Glauben und Leben nicht herstellen. Ich kann nicht eine fertige Lösung finden, die mich „in Ruhe läßt“. Nein, dieser Gott, der mir damals aufging, läßt einen nicht in Ruhe. Er ist der Gott des Weges, er ist der Gott des Augenblicks. Sein Anruf geschieht je im Jetzt, meine Antwort geschieht je im Jetzt – und was hernach kommt, ist in Seinen Händen. Die Einheit meines Daseins, die Einheit des Ganzen, so erfuhr ich, war auf die Spitze des jeweiligen Augenblicks, des jeweiligen Ja zum Wort Gottes gestellt, das als Ruf und Wille mich trifft. Und gerade wenn ich dazu bereit bin, lebe ich im Einen und Ganzen von Ihm her, werde ich gelassen und frei, von Ihm und Seinem Wort her mich und das Ganze mir schenken zu lassen. Einheit als Ereignis, über das ich nicht verfüge, das aber von Ihm her sich mir gewährt.
Mit diesem Schritt verdeutlichte sich die zuvor erwähnte Begegnung mit der Botschaft von der in Jesus angesagten und anbrechenden Herrschaft Gottes. Sie ist so wirklich, daß ich sie gar nicht behäbig besitzen und mich zugleich hinter sie zurückziehen kann. Sie ist eine je augenblickliche Herausforderung; doch darin ist sie, ist dieser Gott selbst viel größer, viel unmittelbarer, viel wirklicher. Auch und gerade weil ich viel armseliger bin – aber: Selig sind die Armen (vgl. Mt 5,3).
Einheit in dem in Jesus Christus seine Herrschaft ansagenden und ergreifenden Gott – Einheit im je gegenwärtigen Augenblick, im Zusammenklang von Ruf und Antwort: diese Schritte drängten über sich hinaus. Wohin, das entdeckte ich, als ich an einem bestimmten Punkt meines Lebens inmitten der Kirche konkreter Gemeinschaft begegnet bin, in welcher Menschen aus dem Evangelium miteinander zu leben versuchten. Dies bewirkte eine leise, aber radikale Wende. Ich habe festgestellt: Einheit geht. Nicht daß ich sie vermag, aber Er vermag sie in mir, Er vermag mein Leben einszumachen in sich, indem ich mich ganz unter Sein Testament stelle: Laß alle eins sein, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin (Joh 17,21).
Dieser in Gemeinschaft gegangene Weg hob zumal zwei Wirklichkeiten für mich ans Licht. Die eine war jene des Neuen Gebotes: „Liebt [110] einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ (Joh 13,34) Das war für mich auf einmal nicht mehr bloß ein Gebot, nicht mehr ein moralischer Appell, sondern eine Wirklichkeit. Er selber lebt so, Er gibt Sich – und ich komme nicht mehr an der Konsequenz vorbei, diese Seine Liebe in mich einzulassen und sie zu gegenseitiger Beziehung werden zu lassen, von Ihm her. Wenn ich mich auf dieses Sein Gebot einlasse, lasse ich mich ein auf die Wirklichkeit. Es gibt den Punkt, an dem ich Seine Liebe so erfahren kann, daß ich fortan unter einem unausweichlichen Anspruch dieser Liebe stehe. Ich weiß zwar: Ich schaffe das nicht! Aber diese Liebe selbst ist stärker und wirklicher als mein Erfüllen dieses Anspruchs oder mein Scheitern vor diesem Anspruch. Und es wird auch offenbar: Nicht ich habe die Idee erschaffen, lieben zu können, sondern dieser Anspruch von Liebe erschafft mich. Diese Liebe wahrnehmen heißt wahrnehmen, daß sie Wirklichkeit ist. Wirklichkeit. Ja, das da zu mir gesagt ist, das sich mir schenkt – und von da an ist sie Atem, den ich nicht nur in mich hineinziehe, sondern den ich zugleich ausatme. Rhythmus, in dem Leben mir zukommt und in dem ich Leben lebe. Liebe annehmen von dem, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat (vgl. Gal 2,20), und diese Liebe als mein eigenes Leben wollen, mein eigenes Begrenztsein in dieser Liebe und Scheitern an ihr immer wieder weggebend und dem, der mich liebt, anvertrauend, dies eröffnet Einheit, in der Lebensraum ist für mich und andere.
Unlöslich verknüpft mit dieser ersten Wirklichkeit ist eine zweite: das Kreuz. Lieben, wie und weil Er uns liebt, dies heißt bereits auf das Kreuz blicken. Hier, in diesem bis zum Letzten gegebenen und vollzogenen Ja ist Jesus mit mir eins bis in den Grund und Abgrund. Hier allein finde ich mich und finde ich alle und sind wir bereits, vor aller Spaltung und über alle Spaltung hinaus, vereint und unausweichlich einander zugewiesen. Im Kreuz, im Sterben und in der Gottverlassenheit Jesu haben wir den Grund der Liebe, das Maß und die Möglichkeit der Liebe, die schon gestiftete Einheit des Ganzen und zugleich den Weg, wie Einheit, wie Sich-Einsmachen geht.
Das Leben entfaltet sich in einem eigentümlichen Dreischritt, der wie von selbst geschieht. Am Anfang steht Sein Wort, das mich trifft, mich beschenkt, mich ruft und darin sich als Wort erweist, das Seine Liebe mir zusagt und Seine Liebe mir anvertraut. Öffne ich mich, so erwächst daraus ein zweiter Schritt, jener des Sich-Einsmachens mit dem Nächsten. Das Wort, das in mich eingeht, trägt mich zu diesem Nächsten, öffnet mich für ihn, läßt mich das Ja, das unteilbar der Herr zu ihm und zu mir zugleich gesprochen hat, in ihm entdecken. Indem ich vom Wort her lebe, beginne ich, zugleich vom andern her zu leben. Dies geschieht [111] aber nur, indem ich – dritter Schritt – in jedem Dunkel, in jedem Versagen, in allem, was Grenze ist in mir oder im andern oder zwischen uns, den entdecke, der sich am Kreuz bis zum Letzten einsgemacht hat mit uns.
Als mir im Leben, in der Gemeinschaft dieser Weg zufiel, habe ich mich selbst durchaus befragt: Geschieht hier nicht doch ein ideologischer Zugriff auf die je größere und andere Wirklichkeit? Aber ich glaubte, den Unterschied zwischen einem solchen Leben und einer Ideologie zu entdecken. In der Ideologie bekomme ich etwas in den Griff. Hier bekomme ich nichts in den Griff. Hier lebe ich. In der Ideologie bringe ich alles auf eine Formel, und die Vielfalt der Wirklichkeit verschwindet in dieser Formel. Hier aber geschieht das Gegenteil. Ich werde freigesetzt in eine Fähigkeit, Wirklichkeit wahrzunehmen und zuzulassen. Wirklichkeit in ihrer immer wieder anderen Gestalt zu erwarten und mich liebend mit ihr einszumachen. Liebend mit ihr, liebend mit dem anderen, wie er ist, einswerden, indem ich gerade nicht alles im vorhinein planen und machen kann: Ist nicht gerade dies die Alternative zur Ideologie? Ich habe nicht Antworten auf die Fragen, sondern begegne Jesu aushaltendem Dasein am Kreuz. Er selber also ist Antwort, Antwort, die ich gerade nicht habe, sondern Antwort, die ich nur leben kann.
In unserem Kontext ist für mich das Johannesevangelium neu zur Botschaft geworden. Ich habe tiefer verstanden, warum der Jesus des vierten Evangeliums immer wieder Sein Einssein mit dem Vater in den Vordergrund rückt, warum Er so darauf besteht, daß Er nicht allein ist, sondern Er und der Vater (vgl. z. B. Joh 8,16; 8,29; 10,30; 12,44f.; 14,9f.; 14,20). Dieses gegenseitige Innesein zwischen Vater und Sohn öffnet jenen Raum der Einheit, der unser Lebens-Raum ist, unser Einheitsraum, in dem allein die Einheit der Welt nicht auseinanderbricht oder in sich zusammenfällt. In diese Einheit des Vaters mit dem Sohn aber kommen wir, indem wir im Sohn bleiben, Er in uns und wir in Ihm (vgl. Joh 14,20–23; 15,1–8). In die gegenseitige Durchdringung (Perichorese) des Vaters und des Sohnes sind wir durch die Liebeshingabe des Sohnes hineingekommen, aber diese Hineinnahme ist kein bloß individuales Geschehen, sondern sie setzt uns in die gegenseitige Beziehung der Liebe und des Einsseins, die sich über uns hinausweitet, „damit die Welt glaube“ (vgl. Joh 17 im Ganzen, besonders VV 20–23). Die Schritte der Öffnung für das Wort, des gegenseitigen Sich-Einsmachens und des immer neuen „Durchgangs“ durch die Todeswunde Jesu (vgl. Joh 19,34; 20,25–28) sind jene, die uns in dieses trinitarische Einheitsgeschehen einfügen: Miteinander eins, sind wir eins mit Jesus und in Ihm hineingenommen in die Einheit zwischen Ihm und dem Vater, die der offene Heils- und Lebensraum für die Welt ist.
[112] Wir haben uns den Fragen nach der Einheit gestellt, welche die Welt heute braucht und sucht. Sind wir nicht ganz weit im Inneren und ganz hoch im Geistlichen in einem Sonderbereich angekommen, der nur für wenige zugänglich ist? Wenn wir es bis zur letzten Konsequenz ernst nehmen, dann: ganz im Gegenteil. Wo wir zu leben beginnen im Maß solchen Einsseins, da wird das Leben selbst anders und neu. Es entsteht ein Raum, in dem Menschen sein können, ein Raum, in dem wir aufeinander zugehen können, ein Raum, der sich nicht selbstgenügsam in sich verschließt, sondern magnetische Anziehungskraft auf andere ausübt. Nicht die Radikalität evangelischen Einsseins schließt aus, sondern das Unterbieten dieses evangelischen Einsseins, das die Alternative des Christlichen weder fühlbar noch plausibel sein läßt. Noch einmal: Wir „schaffen“ solches Einssein nicht, aber das Evangelium markiert einen Weg, und wenn wir ihn miteinander gehen, wird dies zur Einladung und zum Hoffnungszeichen für viele. Die Liebe, an die wir glauben und um die wir uns mühen, ist je größer als wir, und wir können nur die Trümmer unseres Scheiterns immer neu dem, der Liebe ist, anvertrauen. Aber aus dieser Liebe aussteigen, von diesem Einssein lassen, das können wir nicht mehr. Wer einmal diese Liebe verkostet hat, der ist von ihr gebrannt und will in ihr weiterbrennen.