Grenzgänger der Transzendenz – eine Zielgruppe der Pastoral
Einige Konsequenzen für die Pastoral
Der Pastoral kann es nur darum gehen, daß Gott, daß seine Botschaft, sein Wille, sein Heil für den Menschen ins Spiel kommen. Die Entfremdung zwischen der unmittelbaren Lebenserfahrung des Menschen einerseits und dem Anspruch und Angebot des Evangeliums andererseits ist die Not der pastoralen Situation. Warum kommt Gott so schwer für den Menschen ins Spiel? Weil es für den Menschen so schwer ist, daß das seine unmittelbaren Erfahrungen, Bedürfnisse und Anforderungen übersteigende Ganze ins Spiel kommt, und weil es unmittelbar so wenig plausibel erscheint, daß ihm das Ganze, auf das er sich insgeheim doch ausstreckt, seinen Sinn im Anspruch und Angebot des Evangeliums enthüllt. Mit dieser Situation hängt die Fremde des Menschen gegenüber den Rand- und Grenzsituationen des Daseins in unserer Gesellschaft zusammen. Sie werden zu besonders schwierigen Situationen, zugleich aber zu Schlüsselsituationen der Pastoral. Sorge um die pastorale Zielgruppe „Grenzgänger der Transzendenz“ ist so Sorge für die Gemeinde, ja für den Menschen im ganzen. Der Ansatz einer umgreifenden Pastoral und der Ansatz einer Pastoral, die dieser Zielgruppe gilt, berühren, ja durchdringen sich. Denn auch für den Menschen in der Mitte seines Lebens kommt es darauf an, seine eigene Situation als Grenzsituation zum Ganzen hin zu verstehen und für die Grenzsituationen des Daseins selbst sowie für jene, die in ihnen stehen, offen zu werden. Vom Evangelium her gelesen: Es gibt nur [152] das eine und selbe Evangelium, das zugleich in die Mitte unseres Daseins zielt und das die Nähe Gottes uns hineinsagt in unsere nur zu leicht verdrängten Grenz- und Randsituationen. Heil ist nur als gegenwärtiges das künftige, ewige Heil – ist nur als künftiges und ewiges zugleich das gegenwärtige Heil.
Der Rahmen, den diese Erkenntnis spannt, ist weiter als die paar nachfolgend skizzierten Konsequenzen aus dem dargelegten Befund:
a) Gemeinde muß als der Raum erfahrbar werden, in welchem Kinder, Alte, Kranke, Menschen aus Orden und geistlichen Gemeinschaften nicht „Randgruppen“ sind, sondern in lebendiger Kommunikation mit allen stehen. Was für alle in der Gemeinde geschieht, muß auch diesen Gruppen etwas zu sagen haben – das Lebenszeugnis, die Erfahrungen dieser Gruppen müssen der Gemeinde im ganzen etwas zu sagen haben. Nur in solcher Balance kommt das Ganze ins Spiel für die Gemeinde. Es gilt also, Wege zu suchen, wie diese Gruppen mit der Gemeinde mitleben, wie aber auch die Gemeinde mit ihnen mitlebt.
b) Dann gehört zur Pastoral, zur allgemeinen, aber auch zur Gemeindepastoral, daß sie der Bereitung für die unterschiedlichen „Grenzsituationen“ des Daseins dient. Mut zum Kind und Offenheit, Verständnis fürs Kindsein – Mut zum Kranksein, Altsein, Sterben, aber auch Umgehenkönnen mit alten, kranken, sterbenden Menschen – Offenheit für die Berufung zum ungeteilten evangelischen Leben und lebendiger Kontakt mit Menschen, die diese Berufung leben: solches gehört in den Lebenshorizont des Christen.
c) Die pastorale Zuwendung zu allen schließt die besondere Zuwendung zu den „Grenzgängern der Transzendenz“ nicht aus, sondern ein. Ihre Situation ist exponiert, im positiven wie im negativen Sinn, sie sind auf besondere Solidarität und Nähe angewiesen. Das ist etwas anderes als bloße „Betreuung“; der Dienst an ihnen muß sich zugleich als ein Empfangen von ihnen verstehen. Die mit ihnen geteilte, die von ihnen empfangene Erfahrung macht die Zeit, die wir für sie aufwenden, zur Zeit für alle, zur Zeit für die Gemeinde.
d) Das Ziel der Arbeit mit dieser „Zielgruppe“ ist ein doppeltes: Zum einen ist es die Befähigung, durch Verstellungen und Fehldeutungen durchzustoßen und die Berufung der eigenen Situation klar zu erkennen und zu bestehen – es wäre fatal, den alten und den kranken Menschen die Begegnung mit ihrer eigenen Ewigkeit und mit ihrem eigenen Sterben vorzuenthalten, den Menschen in geistlicher Berufung das Ungewöhnliche, Herausfordernde ihres Lebens vorzuenthalten, den Kindern das Geheimnis, das sich ihnen zuspielen will, vorzuenthalten. Zum anderen ist es die Befähigung, die eigene Situation als Berufung für alle, fürs Ganze zu verstehen und zu gestalten. Das heißt nicht, die Grenzsituationen zu verzwecken, doch noch etwas herauszuholen, was für andere nützlich ist. Vielmehr sollen Selbstgenügsamkeit oder Unzufriedenheit aufgesprengt und Leiden, Gebet, Interesse, Teilnehmen auf die Not der anderen, der Gemeinde, der Kirche, der Menschheit hingelenkt werden. Wo die Sensibilität für die Transzendenz wächst, da wächst auch die Sensibilität für die Welt. Kaum irgendwo finden wir mehr Weisheit, mehr Engagement für die Probleme der Zeit und die Nöte der Menschen [153] als in kontemplativen Klöstern oder in Krankenzimmern von Unheilbaren. Fruchtbarkeit und Brauchbarkeit sind nicht dasselbe.
e) Das Ganze kommt ins Spiel: Darum geht es für die Menschen in der Mitte des Lebens und der Arbeit, darum geht es für die Menschen in den unterschiedlichen Grenzsituationen des Daseins. Es gibt nun geistliche Vollzüge, die Kindern, älteren Menschen, Kranken, Ordensleuten besonders naheliegen und zugleich Wege zeigen, um das Ganze auch in den „allgemeinen“ Lebensvollzug des Christen in der Welt einzubringen. Auf drei solcher Lebensvollzüge soll abschließend verwiesen werden. Einmal deswegen, weil sie Erfahrungen spiegeln, die ebenso mit „Grenzgängern der Transzendenz“ wie mit Christen aus den Gemeinden erwachsen sind, zum andern deswegen, weil sie eine Brücke zwischen traditionsverwurzelten Formen geistlichen Lebens und gegenwärtiger Mentalität und Spiritualität zu schlagen vermögen.
Kinder, Ordensleute, ältere, kranke Menschen prägen sich nicht selten besonders tief ein einzelnes Wort ein, leben aus ihm, inkarnieren es in ihren Alltag, können von ihm her schlichte, aber elementare Erfahrungen berichten. Im Lichtstrahl eines Wortes bricht sozusagen das sinngebende Ganze in den einzelnen Augenblick, in die einzelne Situation durch. Ein konkretes Leben des Wortes Gottes in unserem Alltag, die Aufschlüsselung unterschiedlicher Aufgaben, Probleme, Widerfahrnisse durch ein Wort, das sie verstehbar und im Geiste Jesu bestehbar macht: dies ist ein Weg, der auch in den Gemeinden helfen kann, die Kluft zwischen Alltag und Evangelium zu schließen, die geistliche Stummheit der Gläubigen gegeneinander aufzubrechen, Austausch des Glaubens, ja Zellenbildung aus dem Glauben zu fördern.
Eine zweite Beobachtung: Eines der wichtigsten Worte im Horizont von Kindern, Ordensleuten, alten und kranken Menschen ist das Wort „für“. Gerade diese Gruppen freuen sich, wenn sie etwas für einen anderen tun, wenn sie für einen anderen eine Freude bereiten, für einen anderen ihre Schwierigkeiten und Leiden „verschenken“ können. Dieses Wort „für“ ist dort, wo jemand gebannt ist an seine eigene Inaktivität, der Zugang sowohl zum Herrn: für dich!, als auch zu Welt und Kirche: für die anderen! Das Leben Jesu, sein Dasein und Menschsein, steht unter diesem doppelten „für“. Er hat nicht nur etwas für den Vater und für uns getan, sondern er war einfach da für ihn und für uns.
„Wofür bin ich eigentlich da? Wofür ist das alles gut?“ Dies ist die konkrete Gestalt, in welcher Menschen am Rand und in der Mitte die Sinnfrage stellen. Die Kraft glaubenden Daseins liegt darin, daß nicht nur Leistung und Funktion, sondern auch Sein und Erleiden – und so natürlich zumal auch das Tun – da sind für …, will sagen ankommen beim lebendigen Herrn und ankommen, durch ihn, bei den anderen, bei der Welt.
Alte, Kranke, Kinder, Menschen in Orden und geistlichen Gemeinschaften haben oft eine besondere Sensibilität für das eucharistische Geheimnis: ja, man könnte sagen, in ihm „bündeln“ sich die Grunddimensionen ihrer Berufung. Eucharistie ist für sie Anbruch dessen, was kommen wird und worauf wir zugehen [154] – sozusagen vorweggenommener Himmel –, mehr noch: Ankunft dessen, der kommen wird, im Jetzt: im Herrn ist unsere Zukunft geborgen, in ihm sind wir jetzt schon mitgenommen zum Vater. Eucharistie ist zugleich für sie das Eintreffen der Hingabe des Herrn, seiner Liebestat, die ein für allemal geschehen ist: für mich; dieses göttliche „Für mich“ ist stärker als alle zu bewältigende Vergangenheit, als alle bittere oder wehmütig-schöne Erinnerung. Und so ist Eucharistie Befreiung des Jetzt und Befreiung zum Jetzt: in ihr gibt es keine Isolierung, sondern Verbindung mit allen, ja Dasein für alle – das eigene Leben wird verwandelt zur Eucharistie, zur Gabe für die anderen.
Grenzsituationen geben dem eine besonders scharfe Kontur. Aber es ist dieselbe, die sich auch einzeichnen will in Verständnis und Vollzug unserer Gemeinden. In der Tat kommt nirgendwo so sehr das Ganze ins Spiel wie in der Eucharistie. Sie ist die lebendige Sinngebung des Ganzen, in der Zukunft und Gegenwart, in der Beziehung zum Herrn, Beziehung zueinander und Beziehung zur Welt ineinsschlagen. Im Grunde war unsere gesamte Überlegung ein Mitdenken und Nachdenken der Eucharistie.