Das unterscheidend Eine

Eins mit Ihm, eins in Ihm

Die Hingabe Jesu für uns am Kreuz und unser Angenommensein in Jesu Kreuz, der um unseretwillen zum „Fluch“ (Gal 3,13) und zur „Sünde“ (2 Kor 5,21) geworden ist, stiften nicht nur unsere neue Einheit mit Gott, sondern auch unsere Einheit mit Jesus und in ihm miteinander.

Das neue Verhältnis zu Jesus ist sozusagen der Ort und die Weise, wo und wie sich unsere Orientierung auf Gott allein, aufs einzig Notwendige vollzieht. So entdecken wir es bei Paulus: Was er noch zu leben hat im Fleisch, will er leben im Glauben an den Sohn Gottes, der ihn persönlich geliebt und sich für ihn hingegeben hat (Gal 2,20). In die Lebensgestalt Jesu eingetreten, mit ihr durch Glaube und Taufe verbunden, ist es nicht eine bloß bewußtseinshafte Mystik, sondern seinshafte Gegebenheit, daß sein Leben nicht mehr nur und zuerst seines, sondern das Leben Jesu in ihm ist (ebd.). Wie dies das Leben prägt, neu macht, eint, wird besonders eindrücklich sichtbar im Philipperbrief (Phil 3,7–11). Verhaltener, aber nicht weniger intensiv legt sich dieses selbe aus in den johanneischen Abschiedsreden: Wer den Sohn liebt, dem wird er sich offenbaren; wer an seinem Wort festhält, zu dem wird der Sohn gemeinsam mit dem Vater kommen, um Wohnung bei ihm zu nehmen (Joh 14,21.23).

Diese neue Einheit mit Jesus und durch ihn mit dem Vater bedeutet zugleich Einheit in Jesus, also neue gegenseitige Einheit.

Indem Jesus in seinem Sterben uns mit Gott versöhnt, fällt die Scheidewand zwischen Juden und Griechen, das neue Ereignis einer menschlich nicht möglichen Einheit gewinnt Gestalt: Alle sind von der einen Liebe Gottes geliebt, in seine eine Hingabe und Annahme einbegriffen, sie gehören in jenem Dritten, das ihr Innerstes, ihr Gottverhältnis enthält und entscheidet, in Jesu Kreuzestod, auch miteinander zusammen (Eph 2,11–20).

Einswerdend mit Gott, einswerdend miteinander, werden wir zum einen Haus und zum einen Leib, in dem Jesus und durch Jesus Vater und Geist wohnen. Der Text Röm 15,5–13 begründet seine Ermahnung zum einmütigen Lobe Gottes damit, daß wir, Juden und Heiden, von Gott in Jesus angenommen sind und so nicht umhinkönnen, in dieser Annahme auch unsere gegenseitige Annahme zu vollziehen. Daß Gott in Jesus sich uns schenkt, daß er uns in Jesus annimmt, sind nicht nur akzidentelle Bestimmungen, sondern sie treffen uns im Innersten dessen, was wir sind. Und so ist die Versöhnung mit Gott, die Einung mit Gott ganz und gar persönlich und einmalig, zugleich aber überschreiten wir in ihr das Ich zum Du und Wir.

[346] Die Einheit als neues Miteinander in Jesus findet unterschiedliche Ausdrucksweisen, die sich nicht ausschließen, die aber auch nicht nur zur Auswahl je nach kulturellem Kontext oder spiritueller Neigung angeboten sind. Sie entfalten den inneren Reichtum jenes Einungsgeschehens, das uns in Jesus an ihn und aneinander bindet.

Da ist zum einen jene Gemeinschaft miteinander, als deren lebendige Mitte Jesus selbst begegnet (Mt 18,19–20). Das symphonein, das Zusammenklingen miteinander aus der Einheit in Jesus läßt ihn selber unter uns sein und macht unser gemeinsames Beten zum Vater zu seiner Sache, so daß unser Verhältnis zu Gott hineingenommen ist in Jesu Verhältnis zum Vater; daraus wächst die innere Gewißheit der Erfüllung. Im selben matthäischen Kontext erfahren wir jene Gleichheit miteinander, die Rangunterschiede in Einheit hinein auflöst, weil der gemeinsame Blick sich auf den einen Vater, den einen Herrn und den einen Meister richtet (Mt 23,8–12).

Eine andere Grundform präsentiert die Apostelgeschichte: die Gemeinde, die ein Herz und eine Seele ist, in der das Zeugnis der Auferstehung kraftvoll gegeben wird, in der alle alles gemeinsam haben und es den Unterschied zwischen Menschen in Not und solchen im Überfluß nicht mehr gibt (Apg 4,32–34; 2,42–47).

Einen weiteren Weg zeigt uns die Übertragung des Verhältnisses zwischen Jahwe als Bräutigam und Volk Israel als Braut auf das Verhältnis zwischen Jesus und der Kirche. Dies klingt an in der Reflexion des Epheserbriefs (Eph 5,21–33) über die christliche Ehe (vgl. auch 2 Kor 11,2 und Offb 21,2. 9; 22,17).

Schließlich erfolgt eine Identifizierung zwischen glaubender Gemeinde und Jesus Christus selbst, die sich ihrerseits wiederum in unterschiedlichen Denk- und Bildtraditionen darstellt.

Die Frage des Erhöhten an Saulus: „Warum verfolgst du mich?“ zeigt auf einer recht elementaren Stufe die „Schicksalsgemeinschaft“, ja „Schicksalseinheit“ zwischen Jesus und denen, die an ihn glauben (Apg 9,4). Der Galaterbrief (Gal 3,28) sieht alle Unterschiede, die die Gesellschaft spalten – Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau –, als so radikal überwunden an, daß wir in unserem Miteinander bezeichnet werden nicht nur als eines, sondern als Einer: eine neue, kollektive Personalität, die sich von Jesus Christus her gründet. Hier aber schließen sich Bild und Erfahrung der Einheit als „Leibsein“ an. Dabei ist zu achten auf den Unterschied zwischen der Konzeption Christus – Haupt, Gläubige – Glieder (Eph 4,16 im Kontext von Eph 4,1–16 insgesamt und Kol 1,18; auch Eph 5,23) und der anderen Konzeption, in der Christus als ganzer sich in den Gläubigen als seinem Leib manifestiert (Röm 12,3–8; 1 Kor 12 im ganzen, besonders 12,12–31).

In solcher Zugehörigkeit zu Jesus tritt in besonderer Weise der Geist in den Vordergrund, der uns durch die eine Liebe und die vielen Gaben miteinander und mit Jesus verbindet (1 Kor 12,4–11). Im Vielen das Eine zu [347] leben und zu vollbringen, den Einen und das Eine in die Vielfalt der Lebensbezüge auszufalten: darum geht es zumal.

Das Verhältnis zu Jesus und in Jesus zueinander läßt uns auf jene Ebene gelangen, auf der im gängigen theologischen Sprachgebrauch das Wort „Einheit“ uns vertraut ist. Als Vokabel kommt Einheit (henotes) im Neuen Testament nur zweimal vor, und zwar im Epheserbrief (Eph 4,3. 13). Wenn wir aber die neutestamentliche Botschaft insgesamt unter dem Gesichtswinkel der Einheit entfalten, dann entdecken wir, daß in der Tat das Moment „Einheit“ für die innere Identität dieser Botschaft entscheidend ist. So ist nicht mehr zu verwundern, daß zu den intensivsten, beschwörendsten, „feierlichsten“ paränetischen Passagen des Neuen Testamentes jene gehören, die auf dem Einssein insistieren.

Die drei einleitenden Kapitel des 1. Korintherbriefs sind davon bewegt, daß Spaltungen und Parteiungen das eine Evangelium und seinen Kern, das Wort vom Kreuz, zuinnerst verkehren. Im ganzen Brief dringt dieses Grundthema immer wieder durch (zum Beispiel 1 Kor 10,17; 11,17–22; 12–14 insgesamt). Die Einleitung des 4. Kapitels im Epheserbrief (Eph 4,1–6) weist in positiver Grundstimmung nicht weniger eindringlich auf die elementare Notwendigkeit der Einheit hin. Phil 2,1–11 verknüpft die innigste und persönlichste Bitte des Apostels um Einheit der Gemeinde mit dem Christushymnus; die Einheit der Gemeindeglieder miteinander wird zurückgebunden an die Einheit Jesu mit dem Vater in seiner Erniedrigung und Erhöhung.

Schließlich ist die Zusammenfassung und der Inbegriff des biblischen Sprechens von Einheit das 17. Kapitel des Johannesevangeliums, das die Gesamtbotschaft in der johanneischen Perspektive zusammenfaßt und in Jesu Testament, das Gebet zum Vater um die Seinen, münden läßt.

In allen diesen Texten geht es nicht primär um das Aufrechterhalten einer äußeren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit, die ohne Einheit nicht garantiert wären, sondern darum, doch den „einen Punkt“ nicht zu verraten, in dem das Neue und Eigene der Botschaft zum Strahlen kommt: Gottes Sich-Einsmachen mit uns in Jesus, das uns teilhaben läßt an Gottes ganzem, einem Leben und das nur dann in uns lebt, wenn es zwischen uns lebt. Das Glaubenkönnen der Welt ist im Neuen Testament einzig diesem Einssein aller, wie Vater und Sohn eins sind, verheißen.