Die Ironie Gottes
Einssein im Zeichen des Kreuzes*
Solange man derlei nur sagt, bleibt es eine schöne Theorie, und es besteht die Gefahr, daß wir uns in die Meinung hineinträumen, das sei köstlich und [44] wunderbar, aber daß wir im Grunde nichts an unserem persönlichen Leben und Dasein ändern. Wir müssen folgenden Schritt tun: Wir müssen einmal den Satz, daß Vater und Sohn ganz eins sind, daß sie sich ganz gehören, aus dem Verstand, aus der Spekulation, ja auch aus der Dogmatik herunterziehen in das Leben, um zu sehen, wie denn Jesus Christus sein Einssein mit dem Vater real und mitten in der Geschichte gelebt hat. Wie hat er es selber gezeigt, daß er mit dem Vater ganz eins ist? Ganz gewiß in der Innigkeit und Freude der Hingabe an seinen Willen, ganz gewiß darin, daß er jede Stunde und jeden Augenblick bereit war, den Willen des Vaters zu tun. Am tiefsten und radikalsten aber so, daß er die äußerste Verlassenheit, die äußerste Ohnmacht, das äußerste Nicht-mehr-Können, Nicht-mehr-Mögen, Nicht-mehr-Wollen, Nicht-mehr-Sehen, Nicht-mehr-Empfinden zum Rohstoff seiner Einheit mit dem Vater gemacht hat. Er wollte und konnte nicht mehr, er hatte einen Ekel gegen den „Kelch“, aber doch hat er gesagt: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.“ (Lk 22,42). Er hat den Vater nicht mehr verstanden, er hat nicht nur im Sinn einer frommen Zitation den 22. Psalm gebetet, sondern er hat ihn gebetet als Ausdruck des- [45] sen, was er selber war: am Kreuz ausgespannt zwischen Himmel und Erde. „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46). Und gerade darin hat er sich ganz dem Vater ausgeliefert. Das Kreuz ist die Stelle, an welcher Gott die Einheit mit Gott zeigt. In weltliche Verhältnisse, in die äußerste Wirklichkeit unseres Daseins übersetzt, heißt Einheit von Gott mit Gott, Einheit des Vaters mit dem Sohn: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und trotzdem Ja zum Vater – das ist göttliche Einheit, gelebt mitten in unserer Welt der Schuld, der Tren¬nung, des Irrtums, der Spaltung, des Fernseins von Gott. Unser Fernsein, unsere Sünde, unser Gott-verlassen-Haben macht Gott zum Ort seiner Einheit mit Gott. So realisiert Gott sein innergöttliches Einssein mitten in der Welt, eingebohrt in die Wirklichkeit der Welt auf Golgatha, am Kreuz, im Schrei der äußersten Gottverlassenheit. Und das zeigt, daß Einssein miteinander, daß Kirche-Sein alles andere eher heißt als ein netter Club von freundlichen Leuten sein, die es im Grunde ja alle gut meinen und die alle ein gewisses überirdisches Bedürfnis nach einem höheren Wesen haben und die Jesus für einen ausgezeichneten Menschen halten, der etwas mit diesem Gott zu tun hat. Nein, es heißt, daß wir in der äußersten Härte und [46] Dunkelheit, wenn wir uns nicht verstehen, wenn wir es nicht mehr miteinander aushalten, daß wir gerade dort radikal aneinander verwiesen sind. Dort müssen wir auf Gott im anderen schauen. Das darf natürlich nicht heißen, daß wir über den anderen wegsehen, daß der andere uns nur zur Attrappe Gottes wird. Dieser andere ist von Gott angenommen, so wie er ist, mit all dem, was mir auf die Nerven geht, was mir ideologisch, komisch, vordergründig und banal an ihm vorkommt. Dort hat Gott sich mit diesem anderen identifiziert. Nur wenn ich mich mit ihm so, wie er ist, identifiziere, nur dann identifiziere ich mich mit Gott. Kirche sein, Kirche leben heißt ein menschlich nicht mehr begründbares, ein von unserem Gefühl und Geschmack nicht mehr verantwortbares Ja zueinander sagen. Es ist sonderbar, was darin eingeschlossen ist. Darin ist eingeschlossen, daß ich ja sage dazu, daß es ein Amt in der Kirche gibt, daß ich ja sage zur Sonderbarkeit dessen, daß es ein menschliches Wort gibt, in dem mir Gottes Wort begegnet. Es gehört dazu, daß ich ja dazu sage, daß in einer irdischen Institution, die besser sein könnte, Gott zu mir ja sagt. Es gehört dazu, daß ich ja sage zu ei¬nem, der ganz anders denkt und ist als ich, weil Gott ihn angenommen hat und weil Gott mir in ihm begegnet. Das ist der Auftrag an [47] die Kirche, das ist es, was wir immer wieder neu versuchen müssen, was uns total überfordert, weil wir es nicht können, weil nur Gott allein in uns es kann. Wenn solche Gegensätze wie Juden und Griechen eins werden, so daß im Epheserbrief auch angesichts der Spaltung in der Gemeinde der Hymnus gesungen werden kann „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14), dann ist es notwendig, daß auch zwischen Progressiven und Konservativen, zwischen Pietisten und Orthodoxen, zwischen Menschen verschiedenster Lager und Meinungen letztlich um Jesu willen, durch ihn und von ihm allein her eine Einheit, ein Einssein wachsen kann. Das ist eine ungeheuerliche Verantwortung für uns. Daß wir gespalten sind in verschiedenen Kirchen, ist eine Last. Aber wenn schon die Last schlechthin, die Schuld, die Sünde, von Gott verwandelt werden konnte – wobei gerade aus dem Warum unserer Gottverlassenheit Gott die tiefste Einheit mit Gott leben konnte –, dann ist unser Zerspaltensein in die Kirche hinein nur ein Aufruf dazu, daß wir noch viel tiefer, radikaler, abgründiger, ja noch göttlicher dieses Einssein von Vater und Sohn zwischeneinander suchen müssen und können. Das Ja zueinander heißt auch ein Ja dazu, daß in dieser Kirche, zu der dieser andere gehört, Menschen um Jesu willen beieinander sind und Jesus in ihrer [48] Mitte lebt, daß wir uns gegenseitig radikal an- und ernstnehmen. Aber es gibt kein anderes An- und Ernstnehmen als im Zeichen des Kreuzes Jesu Christi. Und das heißt, es wäre ein Verrat, wenn wir dächten: Jesus will die Einheit, also machen wir uns eins, was uns trennt, ist egal, wir können uns schon verständigen und durchlavieren, wir meinen es doch alle gut, wird setzen uns ganz einfach um denselben Tisch, dann wir der Herr schon in unserer Mitte sein. Das hieße, um das, worauf es ankommt, genau einen Bogen machen. Das ist die eine Fehlform. Und die andere ist die, daß wir sagen: Den anderen liebe ich schon, aber seine Kirche ist fatal, ich schaue, wie weit ich mit ihm kooperieren kann, im übrigen ist er eben etwas komisch, ich vielleicht auch, aber jeder behält seinen eigenen Glauben und seine Konfession privat für sich, eingepackt in den „Plastikbeutel“ seiner unangetastetenn Rechtgläubigkeit. Wir müssen uns einfach zumuten, daß wir diese Spannung des Kreuzes, die wir nicht aushalten können, von dem her aushalten, der am Kreuz hängt, daß wir sie in uns von ihm aushalten lassen: ein radikales Ja zueinander, das trotzdem in der ganzen Ehrlichkeit des Ringens um ihn sich Stück um Stück an die Arbeit macht. Wir dürfen uns nichts ersparen, wenn der Vater und der Sohn sich nichts erspart [49] haben. Denn wenn wir uns etwas ersparen, dann ersparen wir uns ihn, und ihn dürfen wir uns nicht ersparen. Und das heißt ebenso, in allem Ernst des Ringens um ihn, aufeinander zugehen, in der ganzen radikalen und unendlichen Liebe, die ihn mit dem Vater verbindet, aufeinander zugehen. Wir werden von daher unwahrscheinlich schöpferisch werden, es werden neue Kräfte entbunden werden durch ihn in uns, um uns zu finden, um aufeinander zuzugehen, um neue Wege zu finden; aber nicht Wege an ihm vorbei und um ihn herum, sondern mitten durch ihn und durch sein Kreuz hindurch. Das ist die Aufgabe der Kirche, darauf kommt es letztlich an, und das ist meine Hoffnung für die Kirche. Die Kirche, die hineingerät in die äußerste Not und Verlassenheit, hat Anteil an ihm. Alles, was es in der Menschheit an Not, an Fragen, an Schwierigkeiten gibt, muß in den Kirchen leben, muß ausgestanden werden in ihm, und wir müssen voneinander ausgestanden werden in ihm, und wir müssen in ihm die Tür zueinander haben, die Tür, die uns gerade dort verbindet, wo wir uns nicht verstehen, wo das Warum stehen bleibt. Ich glaube daran, daß in jedem von denen, die eine andere Konfession haben als ich, Jesus Christus am Werk ist. Ich glaube daran, daß in der Gemeinschaft, zu der er gehört, Jesus [50] Christus am Werk ist. Ich bete Jesus Christus an in einem jeden einzelnen von ihnen, ich bete Jesus Christus an in der Mitte einer jeden dieser Gemeinschaften. Gerade in dieser äußersten Haltung der Ehrfurcht und Anbetung zu ihm müssen wir einander ertragen, aufeinander zugehen, miteinander gehen, bis er ganz und gar in unserer Mitte ist. Als „Gedanke“ ist das harmlos. Doch eines Tages fiel mir auf, daß ich ihn als einen bloßen Gedanken konserviert hatte, mich aber im Grunde doch behäbig und freundlich und glatt innerhalb meines eigenen Zauns wohl fühle und dort, wo ich die anderen nicht mehr verstehe, versuche, Höflichkeit und Respekt walten zu lassen, aber bei mir bleibe. Aber wenn ich Gott nicht überall annehme, wo er lebt, wenn ich Gott in der Kirche meines getrennten Bruders nicht liebe, wenn ich mir den Weg des Schmerzes, der Auseinandersetzung, der Liebe, des Aushaltens, des Warum erspare, dann habe ich nicht wirklich ja zu Gott gesagt. Es ist einfach notwendig, daß wir diese Entscheidung sehen und treffen. Entscheidung für Gott heißt Entscheidung für den Bruder und für Jesus – auch in der Mitte der getrennten Brüder in der anderen Kirche. Diese Entscheidung zu treffen im letzten Ernst, in der letzten Redlichkeit meines Glaubens an ihn und [51] in der Verbindlichkeit meiner eigenen Kirche, das ist der Weg. Es gilt, Gott lieben, ihn selbst annehmen, radikal, ganz und gar, durch sein Kreuz hindurch in denen, die anders sind als ich. Dann wird er in unserer Mitte sein können als der Auferstandene, der zu uns und zu den Kirchen sagt: „Seht, ich mache alles neu!“ (Offb 21,5).