Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Ende der negativen und Anfang der positiven Philosophie
Die Potenzen kehren sich nicht von selbst dazu um, Potenzen des absoluten Prinzips zu sein, das heißt aber: das Denken kehrt sich nicht von selbst dazu um, Begriff des göttlichen Gottes zu sein. Bei diesem muß die Initiative liegen, damit er der Herr der Potenzen, er so auch der Herr des Denkens sei, damit er sich im Denken als das Prinzip erweise. Das erfordert vom Denken ein doppeltes: einmal den ekstatischen Abschied von sich selbst, die Voraus-Setzung des unvordenklichen Daß, zum andern aber die Rückkehr des Denkens in sich selbst, seine Wiedereinsetzung. Denn wenn das Denken nicht wieder Denken zu werden vermag angesichts des unvordenklichen Daß, wenn es nicht sich zu sich selbst von diesem vermittelt zurückerhält, so wäre das Prius ja des Denkens nicht mächtig, wäre also nicht sein Prinzip.
Wie aber sieht nun diese Rückkehr des Denkens in sich selbst aus, die notwendig auch Rückkehr des unvordenklichen Daß ins Denken bedeutet? Denn wäre dieses nicht im Denken, so wäre das Denken angesichts seiner nicht mehr bzw. nicht wieder Denken. Diese Rückkehr des Denkens in sich, dieser neue und entscheidende Eintritt des Prinzips ins Denken, das somit erst von ihm ausgehen kann, ist, wie gesagt, Sache des Prinzips selbst, sie ist aber nur dann Sache des Prinzips mit dem Denken, wenn sie zugleich Sache des Denkens [230] selbst ist. Wir haben also zu fragen nach dem Tun des Denkens, in welchem das unvordenkliche Daß sich ins Denken gibt und das Denken an sich selbst zurückgibt.
Dieses Tun des Denkens ist zugleich Abbruch und Fortsetzung seiner selbst, ist neuer Aufgang und Wiederaufnahme dessen, was es zuvor war, Wiederaufnahme also des reinen Denkens und der negativen Philosophie. – Wie kann das geschehen?
Das Denken war gehalten, nichts anderes als reine Existenz zu denken, um den sicheren, in sich unzweifelhaften Anfang seiner selbst, um die Voraussetzung seiner selbst zu erschwingen1. Was der Ekstase der Vernunft so unmittelbar als in sich stehende Wirklichkeit aufgibt, ist zugleich – wenn auch auf selbst erst begriffliche, potentielle Weise – der letzte Begriff der negativen Philosophie2. Genauer besehen, ist es der letzte Gedanke des reinen Denkens, den der letzte der negativen Philosophie an sich selbst expliziert. Das reine Denken entwirft die Figur des Seienden und setzt sie als Prädikat, fordert also eines, das dieses Seiende ist, das das-Seiendeseiende, das Prinzip, in dem als solchem nichts Prädikatives, nichts Essentielles, kein Was, keine Potenz, sondern nur der reine Akt ist.
Dieses im universalen Was eingeschlossene Daß kommt aber als es selbst, als Prinzip des Seienden erst hervor, indem das Seiende in der negativen Philosophie auseinandergesetzt und vom Prinzip getrennt, durchs selbstmächtige, sich zum Prinzip erhebende Ich gegen das Prinzip gekehrt wird3: die absolute Voraussetzung ist durchs Sich-Selbersetzen des Ich nicht abzulösen, das Ich bleibt unter den Potenzen, die es selbst in Spannung setzt, und somit unter dem in ihnen sich bezeugenden und vollbringenden absoluten Daß. Dieses erscheint als der Potenzen mächtig, so aber auch als über den Potenzen; denn das Ich kann nicht von den Potenzen selbst die Lösung seiner Unterworfenheit unter sie erhoffen – ihr Verhältnis zu ihm ist das der bloßen Notwendigkeit –, vielmehr nur von dem, der eines freien Verhältnisses zu ihnen und zu ihm fähig ist.
Das Ende der negativen Philosophie überliefert dem Anfang der positiven also 1. den Begriff des reinen Daß, der reinen Voraussetzung über und vor allem Was als den Begriff des – so freilich [231] erst „möglichen“ – Gottes, 2. die Potenzen, das Seiende, letztlich das Subjekt-Objekt als jenes, was dieser Gott ist, wenn er ist, d. h., was sein Wesen, sein ihm Gehörendes, Raum seiner Herrschaft und Freiheit ist, wenn er Gott ist.