Erfahrungen mit Wort und Sakrament

Entfaltungsraum für Wort und Sakrament

Nun aber die zweite Frage dieses zweiten Abschnittes: Welchen Raum setzen Wort und Sakrament in mir voraus, um sich auszuwirken, oder welchen Daseinsraum reißen Wort und Sakrament in mir auf, damit sie sich in ihm voll entfalten können? Es ist derselbe Raum, von dem wir bereits sprachen, aber er zeigt im neuen Durchgang Neues, erschließt tiefere Erfahrung von Wort und Sakrament. Wir können das Wort Gottes nur verstehen, wenn wir im Hören Anbetende sind, wenn wir uns loslassen und uns übersteigen zu ihm. „Dein Angesicht will ich suchen“ (Ps 26 [25], 8). Wenn das Hören nicht einhergeht mit dem Suchen des Antlitzes des Vaters, dann droht das Wort gewissermaßen eine Droge oder ein Nichts zu werden. Wo ich zum Vater blicke durch Jesus Christus, da kann das Wort mir sagen, was es zu sagen hat. Banal ausgedrückt: Wenn ich durch das Telefon ein Wort in Empfang nehmen will, muß ich auch mal Hallo sagen, muß nach dem Gegenüber rufen. Nur indem ich rufe, kann sein Ruf mich erreichen – wobei ich durchaus weiß und immer wieder erfahre, daß Menschen, die nicht suchen und nicht fragen, plötzlich gnadenhaft getroffen werden vom Wort. Aber was dann sofort ausgelöst wird, ist die Zuwendung, der Aufblick, das Suchen und Fragen: Was willst du, daß ich tun soll? (vgl. Apg 22,10). Zum Lebensraum des Christen gehört also zum einen die Anbetungsdimension, damit Gottes Wort aufgehen kann. Das zweite ist die Rufdimension. Wer sich nicht rufen läßt, wer sich nicht mitnehmen läßt, wer sich nicht in Anspruch nehmen läßt, wer sich nicht senden läßt, wer dieses Wort nicht bei sich einschlagen läßt, bei dem kommt nichts in Bewegung. Anbetung, Frage, Suchen – Ruf, Einschlag, Sendung: beide Dimensionen setzen sich wechselseitig voraus, schließen sich ein.

Wir brauchen den Raum der Anbetung, und wir brauchen den Raum des Rufes. Wir brauchen schließlich den Raum der Koinonia, der Gemeinschaft. Ich höre dann auf Gottes Wort, wenn ich entweder schon im Hören aufeinander stehe oder mich ins Hören aufeinander hineinnehmen lasse, ins gegenseitige brüderliche Zeugnis. Wort Gottes braucht diesen Zeugnisraum. Wo ist Gottes Wort heute mächtig in der Kirche? Dort, wo Menschen miteinander auf dieses Wort hören, wo sie so auf Gott hören, daß sie zugleich aufeinander hören, wo sie so aufeinander hören, daß sie zugleich auf ihn hören.

[83] Ich bin überzeugt, daß dieser Raum, den das Wort braucht, in einem doppelten Sinn auch der Raum ist, den das Sakrament braucht. Ich mache oftmals die Erfahrung, daß die Sakramente stumm werden, wo nicht die Erfahrung und Gemeinschaft im Wort Gottes dem voraufgeht. Ich glaube, um die Erfahrung des Sakramentes zu haben, tut es not, den Raum zu bilden, in dem wir mit dem Wort Gottes leben. Immer, und das scheint mir genau so katholisch zu sein wie reformatorisch, immer kommt der Glaube vom Hören (vgl. Röm 10,17). Nur im durch das Wort eröffneten und für das Wort bereiteten Raum kann auch Sakrament in seiner Fülle aufgehen. Der Raum, den dann ganz spezifisch das Sakrament braucht, ist sodann derselbe dreidimensionale Raum von Anbetung, Ruf und Gemeinschaft. Zunächst: Raum der Anbetung. Ein Sakrament, das nicht in der Haltung der Anbetung empfangen wird, bei dem kommt gerade auch das Mehr des Sakramentes nicht an. Ich bin durchaus der Meinung, daß die Sakramente nicht nur die Bestätigung unseres eigenen Vollzuges sind, daß in ihnen das unseren Vollzug übertreffende Mehr Gottes eindringt, aber nur, wenn ich mich zu diesem Mehr Gottes ausspanne, kann dieses Mehr mich so erreichen, daß es in mir auch Frucht bringt.

Also ist es Raum der Anbetung, und es ist zugleich Raum, der sich öffnen muß in die Welthaftigkeit hinein. Sakrament ist nicht ein egoistisch vereinnahmbares Gnadenzeichen für mich, für mein „ego“, sondern betrifft mein Stück Welt. Das Stück Welt in mir muß mitgebracht werden. Ich muß mein Leben, mein Dasein mitbringen. Ich muß dem Sakrament in dieser Offenheit meines Lebens begegnen, damit es wirksam wird. Und ich muß in jenem Raum des Miteinander stehen, in jener ekklesialen Gemeinschaft, die nicht nur ein äußeres Datum, sondern ein Vollzugsmerkmal ist, wie ich existiere. Es braucht das „Mit“ der gegenseitigen Liebe, damit das Sakrament nicht nur ein punktualer Einschlag, eine „Kasualie“ ist, sondern wirklich Frucht bringen kann.

Es gilt, jenen Lebensraum zu bereiten, in dem miteinander beten, in dem miteinander Sendung übernehmen und in dem miteinander Gemeinschaft haben möglich ist. Und hier eine ökumenische Bemerkung: Ich bin sicher traurig darüber, daß wir noch nicht weiter sind in der Kommuniongemeinschaft, in der sakramentalen Gemeinschaft. Aber, was mir, als wir darüber sprachen, ein anglikanischer Bischof bei unserer Zusammenkunft kürzlich gesagt hat, das hat mir zu denken gegeben.

[84] Er sagte: Ist’s vielleicht nicht auch gut? Wenn wir das schon könnten, dann würden wir uns um dieses andere, um die Voraussetzungen, nicht mehr gemeinsam so bemühen, wie es notwendig ist. Müssen wir nicht einmal anfangen, einfach diese drei Dimensionen miteinander so als einen Lebens- und Erfahrungsraum zu leben, daß darin erst wieder Wort und Sakrament ihre ganze Fülle uns selber sagen möchten? Ich sage das mit ungeduldiger Geduld.