Das Haus des barmherzigen Vaters
Entfremdung
Überprüfen wir unsere Mentalität an diesem Maß von Erlösung. Vielleicht verstehen wir dann, wieso denn unsere noch so erlösende Erlösungsbotschaft sowenig Resonanz findet und sowenig entfaltet. Lebe ich vom Gegenüber Gottes aus? Gehen meine Wege diesen Umweg, der keiner ist: zuerst vor sein Angesicht und dann in meinen Alltag? Oder denken wir: Ich bin ich, und ich kann machen, was ich will, mit mir fängt es an und alles andere ist zweitrangig? Leben wir nicht insgeheim aus dem Vorrang einer isolierten Selbstbestimmung? Glauben wir zum zweiten an eine Ordnung, die verbindlich und unverbrüchlich ist? Oder machen wir uns diese Ordnung in der jeweiligen Situation gerade so zurecht, wie wir sie uns wünschen? Lassen wir uns ein auf diese unbeugsame Wirklichkeit, daß uns das Leben und seine Maßstäbe vorgegeben sind? Wir sind nicht die Macher dieser Welt und unseres Lebens. Wir haben zu antworten, zu pflegen, zu hüten, zu wahren, und so gerade können wir gestalten. Glauben wir wirklich an die unverrechenbare Würde und Größe des eigenen Ich? Oder entschuldigen wir uns andauernd, indem wir reden von den vielen Einflüssen, unter denen wir ste-[27]hen; von Festlegungen und Abhängigkeiten; von den Verhältnissen, der Psychologie, der Gesellschaft? Lösen wir so nicht, uns einerseits absolut behauptend, unser eigenes Ich andererseits auf in die radikale Entschuldigung?
Als Professor bin ich einmal einem Kollegen begegnet, der eine Haftanstalt besucht hatte. Er war betroffen, mir erzählen zu müssen: „Ich bin ungezählten Taten, aber keinem Täter begegnet.“ Wenn wir die Taten, die in dieser Welt sind, nicht adoptieren und unser Ja zu ihnen sagen, werden dann diese Taten nicht herrenlos umhergeistern und die Atmosphäre, in der wir leben, vergiften? Haben wir wirklich den Mut, anzuerkennen, daß nicht wir uns erlösen können? Haben wir den Mut, zu sagen, daß von der Vergebung alles abhängt? Oder pochen wir nicht immer wieder auf unsere Ansprüche und gehen von uns selber aus? Messen wir nicht alles an einem selbstgemachten Maß des „Zumutbaren“? Glauben wir, daß zuerst das Herz sich ändern muß und wir nur mit einem geänderten Herzen jene Radikalität aufbringen, die auch fähig ist, die Verhältnisse zu ändern?
In unserem eigenen Welt- und Menschenbild klafft eine eigentümliche Differenz: Auf der einen Seite wollen wir viel mehr sein, als wir im [28] christlichen Menschenbild sind. Wir wollen unsere eigenen Macher und Akteure sein. Im selben Atemzug wollen wir andererseits jedoch viel weniger sein: nicht eigentlich verantwortlich, nicht eigentlich jene, die letztlich Angelpunkt dieser Welt sind, sondern Menschen, die sich entschuldigen können durch soundsoviele Abhängigkeiten von anderen und anderem. Überspitzt gesagt: Wir treffen heute nicht selten auf das praktische Postulat „mehr Freiheit“ – und es geht theoretisch Hand in Hand mit einer Leugnung der Freiheit: sie wird aufgelöst in entschuldigende Determinismen.
Das hat zunächst natürlich zu tun mit uns selbst und damit, daß wir Sünder sind und uns als Sünder nicht aushalten wollen. Es hat aber auch zu tun mit dem Geschick neuzeitlichen Geistes. Diese Neuzeit soll nicht gescholten und beklagt werden. Da wir aber an ihr Ende kommen, müssen wir den Mut haben, sie einmal auf ihre geistige Wurzel zu befragen. Die Neuzeit ist das großartige Unternehmen des Menschen, alles auf sich, auf diesen Punkt Ich zurückzuführen und aus diesem Punkt Ich sich eine ganze Welt konstruieren zu wollen. Das Subjekt nahm sich aus den bindenden Ordnungen heraus, das Subjekt machte sich zum Ausgangspunkt seiner eigenen [29] Konstruktionen, das Subjekt entwarf sich in die Welt hinein. In Forschung, Technik und Wissenschaft machte es immer mehr Bereiche dieser Welt sich Untertan, konstruierte es immer mehr aus sich selbst heraus, bis die ganze Welt schließlich von Menschen gemacht war. Da aber verband sich der Anspruch der absoluten Freiheit zunehmend mit der Erfahrung der radikalen Abhängigkeit von der nunmehr nur noch vom Menschen bestimmten Welt. Wir sind – überspitzt gesagt – eingesperrt in unsere Freiheitsmaschine, die wir entworfen haben, in diese Welt, die nur noch aus unseren Ansätzen lebt. Wir stehen einerseits unter dem höchsten Anspruch der Freiheit und andererseits in der Ohnmacht innerhalb der Welt und ihrer Abhängigkeiten und Funktionalismen, in die wir uns hineinmanövriert haben.
Wie geht Rettung? Wie geht jene Befähigung zur Erlösungsbereitschaft, in welcher die Erlösungsbotschaft uns wieder etwas sagt? Lassen wir uns auf einen scheinbar entlegenen und im Grunde doch zentralen Gedanken ein, den uns in seinem Beitrag zu der Schrift „Der Streit um den Menschen“ der damalige Kardinal von Krakau, Karol Wojtyla, vorträgt. Er sinnt nach über jenes Grundwort neuzeitlicher Kultur, das Entfrem-[30]dung heißt. In der Tat, eine der Grund-erfahrungen, die der Mensch heute macht, ist die der Entfremdung. Solche Entfremdung hat zwei Dimensionen. Die eine Dimension: Wir können uns selber nicht finden. Wir haben den Impuls zum Leben. Wir haben den Impuls, uns zu erfüllen. Wir haben den Impuls, Mensch zu sein. Und wir stecken andauernd in Masken, in Funktionen, in Rollen, in die wir von außen hereingedrängt worden sind und in denen wir uns nicht als wir selbst bewegen können. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich das Produkt einer ganzen Welt, die mich so gemacht hat. In diesen Zügen entdecke ich nicht den, der ich sein will. Wir sind uns entfremdet, weil wir uns in der Welt nicht als die vollziehen und finden können, als die wir uns vollziehen und finden wollen. Das ist das eine. Die andere Dimension ist unsere Not mit den anderen, mit dem Du und mit dem Wir. Diese Not, daß wir selber sein wollen, aber gar nicht aus uns selber und allein sein können, sondern der anderen bedürfen und die anderen brauchen. Wir wollen mit den anderen leben. Doch die anderen wollen anderes als wir, und die anderen bestimmen die Welt mit uns. Ich kann sie nicht bestimmen in dem Ausmaß, wie ich will. Oder wenn ich sie so bestimme mit meinen Mitteln und Mög-[31]lichkeiten, wie ich sie mir vorstelle, dann wird daraus eine Welt, in der die anderen sich nicht mehr finden können. So komme ich aus der Spannung zwischen Ich und Du und Wir nicht heraus.