Das Heilige und das Schöne

Ereignis des Heiligen: Zerbrechen der Gestalt*

Dieselben Elemente, die das Schöne und die Kunst konstituieren, gehören auch in die Phänomenologie des Heiligen. Das Heilige – ist das nicht gerade das schlechthin Unselbstverständliche, Wunderbare, Entzogene und darin doch Betreffende, unendlich Befremdliche und so doch ganz Nahe, Konkrete? Entzogenes Geheimnis, das von sich her auf- und angeht, sich so ereignet und Gestalt wird: solches ist der Aufgang des Heiligen. Es ist das Hier und Jetzt des Nie und Nirgends.

Wir spüren sofort, in welch anderem Sinn die Gestalt zum Heiligen gehört als zum Schönen. Das Schöne ist schön, indem es hindringt auf die Gestalt als Stätte; dort geht es auf. Kunst ist die Gestaltmacht des Ereignisses, und dieses geht nur über die Gestalt hinaus auf, indem es eingeht in die Gestalt, sich zur Gestalt und durch sie über sie hinaus vollbringt. Das Heilige aber geschieht in der Gestalt als Rückstoß aus der Gestalt ins Entzogene. Nicht wie das Entzogene sich in die Gestalt hinein vollbringt, sondern wie die Gestalt auf das Entzogene hin verweist, ja versinkt, ist der Richtungssinn des Heiligen. Kunst ereignet das Schöne in die Gestalt, das Ereignis [259] des Heiligen zerbricht die Gestalt, so daß sie nicht Vorweis des entzogenen Geheimnisses, sondern sein von sich wegweisendes Zeugnis wird. Die Kunst und das Heilige spielen in derselben Polarität von Gestalt und Ereignis, von unnahbar Entzogenem und Konkretion, aber sie spielen als solche je in der entgegengesetzten Richtung. Kunst ist das Hinein und Hin zur Gestalt, der Ruf des Heiligen ist im Hier und Jetzt das Hinweg von der Gestalt aus ihr und über sie hinaus.

Das bestätigen, am Material betrachtet, deutlich die Extremfälle von Kunst und Religion. Es gibt echte Religion – hier ist Religion nicht im Gegensatz zu Glauben gemeint –, die in sich gestaltschwach ist. Eine unausgebildete oder qualitativ schwache Gestalt kann Stätte einer authentischen Offenbarung des Heiligen werden; eine gelungene Gestalt kann umgekehrt das Heilige verdecken. Gestaltschwache Kunst hingegen läßt sich nicht denken. Der „wesentliche“ Fall – im Unterschied zu den Extremfällen von Kunst und Religion – ist das Konvergieren des Ranges der Gestalt und des Ereignisses, das sich in ihr verfaßt. Doch der Maßstab, an dem sich die Gestalt als Offenbarung des Schönen und als Offenbarung des Heiligen mißt, ist nicht derselbe.