Glauben – wie geht das?

Ereignis – Deutung – Wirkung

Die Botschaft Jesu von der hereinbrechenden Gottesherrschaft geht nicht nahtlos in ihre Erfüllung über, sie läuft durch die Krisis des Kreuzes hindurch. Die Botschaft von Jesus dem Christus und Herrn ist Botschaft vom Gekreuzigten, der auferweckt ist, sie kann sich nie ablösen vom Grund des Kreuzes. Glauben ist Glauben an die Herrschaft und das Heil Gottes durch das Kreuz hindurch, gelebter Glaube, Nachfolge ist Kreuzesnachfolge. Ethik Jesu ist zutiefst gekreuzigtes Ja zum Willen Gottes, Liebe, die bis zum Kreuz geht, weil sie nur so Liebe ist, wie Gott liebt, wie Jesus liebt. Das Kreuz also ist der Knotenpunkt.

Christliche Verkündigung hat das von allem Anfang an gewußt und damit ernstgemacht. Sie hat sich stets davon abgesetzt, das Kreuz nur als eine Episode statt es als Grund und Mitte zu verstehen, und erst recht hat sie sich davon abgesetzt, das Kreuz nur als Schein zu verstehen.

Und doch gibt es – außer dem Geheimnis Jesu selbst – wohl keinen anderen Punkt in der elementaren christlichen Glaubensüberlieferung, der in eine solche Vielfalt von Deutungen, von „Theologien“ hinein ausstrahlt wie gerade der Kreuzestod Jesu.

Die kritische Sorge legt sich nahe, die Vielzahl der Deutungen, die Fülle der Theologien beinhalten einen Überschuß der Interpretation über das Ereignis. Hat nicht die gegenteilige Vermutung zumindest ebensoviel recht: das Ereignis habe seinen Überschuß über jede [70] mögliche Deutung und über alle Deutungen zusammen? Nun, wer behutsam und offen über geschichtliche Ereignisse nachdenkt, wird wohl folgendem Verständnis den Vorzug geben: Das Ereignis ist der Überschuß seiner Deutungen über das Ereignis selbst und zugleich der Überschuß des Ereignisses selbst über seine Deutungen.

Lösen wir diesen aufs erste kompliziert erscheinenden Satz ein wenig auf. Eine Sache zeigt, was sie ist, indem wir etwas mit ihr anfangen – erinnert sei an den Beginn unserer Reflexionen beim spielenden Kind. Sie wird immer mehr, was sie ist, indem wir immer mehr mit ihr anfangen. Indem wir mit ihr dies und das anfangen, deuten wir sie, geht sie uns auf, erhält sie ihre Kontur und ihr Profil. Wenn man aber alles mit ihr angefangen hätte, was man mit ihr anfangen kann, dann wäre sie sozusagen verbraucht, fertig nicht im Sinn von vollendet, sondern im Sinn von erledigt. Sie ist interessant, weil man immer noch mehr, immer noch Neues oder immer neu, in neuen Situationen und Zusammenhängen dasselbe mit ihr anfangen kann. Was ich mit der Sache anfange, ist mehr als bloß die Sache, die Sache ist aber auch mehr als das, was ich mit ihr anfange.

Und wie es mit den Sachen ist, so ist es erst recht mit den Ereignissen. Sie bringen etwas in Gang, und solange das nicht abgeschlossen ist, was sie in Gang bringen, solange sie die Dynamik haben, immer Neues in Gang zu bringen, sind diese Ereignisse noch nicht „fertig“. Sie sind wie eine Quelle, die mehr ist als bloß das Wasser, das ihr entströmt. Und doch ist das Wasser, das ihr entströmt, nicht nur der Überschuß der Quelle, sondern auch der Überschuß über die Quelle. Ein Ereignis verstehen heißt, banal ausgedrückt, von dem her, was in ihm drinnensteckt, verstehen, was aus ihm herauskommt, und zugleich umgekehrt von dem her, was aus ihm herauskommt, verstehen, was in ihm drinnensteckt.

Warum stellen wir diese so allgemeine Erwägung an? Um aus dem einen zentralen Ereignis des Kreuzes ein wenig besser die Fülle jener Deutungen zu verstehen, die für dieses Kreuz uns im Neuen Testament und in der Geschichte des Glaubens begegnen, und um in der anderen Richtung in diesen Deutungen und durch sie hindurch das je größere Geheimnis des Kreuzes besser zu verstehen.